Der Kritiker weiss es, dass er verkehrt
urteilt, und richtet sich deshalb, um sich
nicht dauernd zu blamieren, nach dem Ur-
teil Anderer; Sie auch. Es ist Ihnen nicht
wesentlich, ob jemand Künstler ist, sondern
ob er nach Jahren sich gegen Euch Kritiker
durchsetzt, oder nicht.
Wir Künstler urteilen sicherer. Ich weiss
es z. B. schon seit meiner ersten Begegnung
mit Ihnen, dass es jetzt schon peinlich ist,
an Ihre Unfähigkeit erinnert zu werden.
In einigen Jahren aber? Schreihen Sie oder
schreiben Sie nicht, zetern Sie oder blamieren
Sie sich durch falsches Lob, Ihnen kann
es nicht mehr helfen. Die Kunst, die Sie
nicht kennen, die Kunst hat Sie gerichtet.
Draussen auf der Strasse ruft jemand: „Torf,
Torf!" Auch dieser Mann kann die Ent-
wicklung in der Kunst nicht mehr aufhalten;
und wenn er noch so laut schreit. Auch
sonst sind manche Aehnlichkeiten zwischen
Ihnen und dem Torfmann. Ich hotfe, es
wird Ihnen nach ebensoviel Jahren nicht
peinlich sein, an mich erinnert zu werden.
Der Torimann bleibt sich immer gleich mit
seinem Geschrei, Sie auch, in Ihren Kritiken.
Der Torfmann handelt mit einer Ware, die
ihn nicht wärmt, Sie schreiben über „mo-
derne" Kunst. (Mensch sein heisst leiden.)
Damit Sie mich nun recht verstehen: Ihre
Kritiken bleiben sich wesentlich gleich, ob
Sie gegen oder für den Expressionismus
schreiben, sie bekämpfen die Kunst. (Kann
man mit einem Holzschwert kämpfen?) Aber
bei aller Feindschaft, unser Holzschwert,
gegen die Kunst, erkennen Sie an, was „zur
Zeit" nicht mehr angefeindet werden „darf",
weil es die Menge von Kritikern, die eben-
so wenig urteilsfähig ist wie Sie, durch
irgend ein unverzeihliches Versehen aner-
kannt hat. (Man will sich doch nicht bla-
mieren.)
Sie schreiben gegen die Kunst, weil Sie, ich
will es Ihnen verraten, die Grösse der Kunst
nicht ertragen können. Warum schreiben
Sie wohl gegen den Sturm? Der Sturm ist
konsequent. Herwarth Waiden verwirft
nicht, was er erkannt hat und erkennt nicht
an, was er verwerfen muss. Das ist Ihnen
peinlich. Können Sie mir hier folgen?
Herwarth Waiden erkennt, er erkennt nicht
an. Das ist Ihnen sehr peinlich.
Herwarth Waiden kämpft für die Kunst,
Sie kämpfen gegen die Kunst. Sie hoffen
nun, wie Sie mit der Kunst fertig werden
können, d. h. fertig werden zu können ge-
hofft haben, auch mit dem Sturm einmal
fertig zu werden. Sie werden allerdings
fertig, sind schon fertig, aber nicht mit,
sondern durch den Sturm, eben fertig, ganz
fertig. (Der Gerechte muss viel leiden.)
Der Torfmann draussen ist längst vorbei.
Und draussen ruft ein Anderer. Der Andere
ruft: „Hasenfelle, Hasenfelle!" Was kümmert
das die Kunst? Haben Sie keine Hasenfelle
zu verkaufen, Herr Westheim?
Ich begrüsse Sie in Demut
Ihr sehr ergebener
Kurt Schwitters
Briefe an Paul Westheim
Dritter Brief
Kurz vor der Beendigung meines zweiten
Briefes hatten Sie mir das Stichwort Ludwig
Rubiner gegeben. Er sollte gegen Waiden
zeugen. Aber Ludwig Rubiner zeugte für
ihn. Rubiner wurde in den dirufen
Vieler als ein Apostel und Fanatiker der
Wahrheit gepriesen. Ich warte ab, ob man
seine Wahrheitsliebe nun in Zweifel ziehen
wird, da sie wohl allen denen unbequem
ist, gegen die ich hier schreibe. Auch der
Mut und die Unerschrockenheit Rubiners
wurden gepriesen. Den Mut, sein Urteil
über Herwarth Waldens Roman „Das Buch
der Menschenliebe " öffentlich auszusprechen,
diesen Mut, diesen gewaltigen Mut hat auch
Rubiner nicht aufbringen können. Ultra
posse nemo cogitur. Gegen das Ungeheuer
des deutschen Schrifttums, das vor dem
erdrückenden Geiste Waldens mit allen
Mitteln der Gleichgültigkeit, der Unwissen-
heit, des Unverstandes, der Bosheit, des
Neides, des Hasses, der Lüge, der Rachsucht
und der Verleumdung sein klägliches Da-
sein zur Geltung zu bringen sucht, gegen
dieses Ungeheuer konnte wohl auch Ludwig
Rubiner nichts verrichten. Dieser Riesen-
mut war von ihm nicht zu verlangen.
Und nun, Herr Westheim, warte ich darauf,
dass Sie einige neue „Fälle" verzeichnen.
Bis dahin wollen wir unseren Geist recht
dressieren. Wir wollen die Bussübungen
abhalten, die ich Ihnen in meinem zweiten
Brief versprochen habe. In alten Büchern
und Chroniken, die sich vor mir häufen,
153
urteilt, und richtet sich deshalb, um sich
nicht dauernd zu blamieren, nach dem Ur-
teil Anderer; Sie auch. Es ist Ihnen nicht
wesentlich, ob jemand Künstler ist, sondern
ob er nach Jahren sich gegen Euch Kritiker
durchsetzt, oder nicht.
Wir Künstler urteilen sicherer. Ich weiss
es z. B. schon seit meiner ersten Begegnung
mit Ihnen, dass es jetzt schon peinlich ist,
an Ihre Unfähigkeit erinnert zu werden.
In einigen Jahren aber? Schreihen Sie oder
schreiben Sie nicht, zetern Sie oder blamieren
Sie sich durch falsches Lob, Ihnen kann
es nicht mehr helfen. Die Kunst, die Sie
nicht kennen, die Kunst hat Sie gerichtet.
Draussen auf der Strasse ruft jemand: „Torf,
Torf!" Auch dieser Mann kann die Ent-
wicklung in der Kunst nicht mehr aufhalten;
und wenn er noch so laut schreit. Auch
sonst sind manche Aehnlichkeiten zwischen
Ihnen und dem Torfmann. Ich hotfe, es
wird Ihnen nach ebensoviel Jahren nicht
peinlich sein, an mich erinnert zu werden.
Der Torimann bleibt sich immer gleich mit
seinem Geschrei, Sie auch, in Ihren Kritiken.
Der Torfmann handelt mit einer Ware, die
ihn nicht wärmt, Sie schreiben über „mo-
derne" Kunst. (Mensch sein heisst leiden.)
Damit Sie mich nun recht verstehen: Ihre
Kritiken bleiben sich wesentlich gleich, ob
Sie gegen oder für den Expressionismus
schreiben, sie bekämpfen die Kunst. (Kann
man mit einem Holzschwert kämpfen?) Aber
bei aller Feindschaft, unser Holzschwert,
gegen die Kunst, erkennen Sie an, was „zur
Zeit" nicht mehr angefeindet werden „darf",
weil es die Menge von Kritikern, die eben-
so wenig urteilsfähig ist wie Sie, durch
irgend ein unverzeihliches Versehen aner-
kannt hat. (Man will sich doch nicht bla-
mieren.)
Sie schreiben gegen die Kunst, weil Sie, ich
will es Ihnen verraten, die Grösse der Kunst
nicht ertragen können. Warum schreiben
Sie wohl gegen den Sturm? Der Sturm ist
konsequent. Herwarth Waiden verwirft
nicht, was er erkannt hat und erkennt nicht
an, was er verwerfen muss. Das ist Ihnen
peinlich. Können Sie mir hier folgen?
Herwarth Waiden erkennt, er erkennt nicht
an. Das ist Ihnen sehr peinlich.
Herwarth Waiden kämpft für die Kunst,
Sie kämpfen gegen die Kunst. Sie hoffen
nun, wie Sie mit der Kunst fertig werden
können, d. h. fertig werden zu können ge-
hofft haben, auch mit dem Sturm einmal
fertig zu werden. Sie werden allerdings
fertig, sind schon fertig, aber nicht mit,
sondern durch den Sturm, eben fertig, ganz
fertig. (Der Gerechte muss viel leiden.)
Der Torfmann draussen ist längst vorbei.
Und draussen ruft ein Anderer. Der Andere
ruft: „Hasenfelle, Hasenfelle!" Was kümmert
das die Kunst? Haben Sie keine Hasenfelle
zu verkaufen, Herr Westheim?
Ich begrüsse Sie in Demut
Ihr sehr ergebener
Kurt Schwitters
Briefe an Paul Westheim
Dritter Brief
Kurz vor der Beendigung meines zweiten
Briefes hatten Sie mir das Stichwort Ludwig
Rubiner gegeben. Er sollte gegen Waiden
zeugen. Aber Ludwig Rubiner zeugte für
ihn. Rubiner wurde in den dirufen
Vieler als ein Apostel und Fanatiker der
Wahrheit gepriesen. Ich warte ab, ob man
seine Wahrheitsliebe nun in Zweifel ziehen
wird, da sie wohl allen denen unbequem
ist, gegen die ich hier schreibe. Auch der
Mut und die Unerschrockenheit Rubiners
wurden gepriesen. Den Mut, sein Urteil
über Herwarth Waldens Roman „Das Buch
der Menschenliebe " öffentlich auszusprechen,
diesen Mut, diesen gewaltigen Mut hat auch
Rubiner nicht aufbringen können. Ultra
posse nemo cogitur. Gegen das Ungeheuer
des deutschen Schrifttums, das vor dem
erdrückenden Geiste Waldens mit allen
Mitteln der Gleichgültigkeit, der Unwissen-
heit, des Unverstandes, der Bosheit, des
Neides, des Hasses, der Lüge, der Rachsucht
und der Verleumdung sein klägliches Da-
sein zur Geltung zu bringen sucht, gegen
dieses Ungeheuer konnte wohl auch Ludwig
Rubiner nichts verrichten. Dieser Riesen-
mut war von ihm nicht zu verlangen.
Und nun, Herr Westheim, warte ich darauf,
dass Sie einige neue „Fälle" verzeichnen.
Bis dahin wollen wir unseren Geist recht
dressieren. Wir wollen die Bussübungen
abhalten, die ich Ihnen in meinem zweiten
Brief versprochen habe. In alten Büchern
und Chroniken, die sich vor mir häufen,
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