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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 11.1920

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Elftes und zwölftes Heft
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Blümner, Rudolf: Briefe an Paul Westheim, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.37133#0159

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tun, Herr Westheim? Ich will die kunst-
geschichtlichen Kenntnisse des Herrn Max
Osborn so wenig prüfen wie die Ihrigen.
Denn es ist schon zu deutlich geworden,
dass die gründlichsten Kenntnisse auf dem
Gebiet der Kunstgeschichte nicht vor Tor-
heit bei Beurteilung neuer Kunst schützen.
Es hat sogar den Anschein, als ob es grade
diese kunsthistorischen Kenntnisse seien,
die zur Aufnahme neuer Kunsterscheinungen
so sehr unfähig machen. Aber bei dieser
Erwägung drängt sich mir ein ganz anderer
Verdacht auf: Ob nicht Kunsthistoriker, die
sich gegenüber der Gewalt der neuen Kunst
gar so widerspenstig zeigen, auch in puncto
Kunstgeschichte schlechte Musikanten sind
— wenn mir die in unpassenden Bildern
so geübten Herren dieses unpassende Gleich-
nis gestatten wollen. Die Oberflächlichkeit,
mit der sie das Studium der neuen Kunst
betreiben, macht mir auch ihr Studium der
Kunstgeschichte verdächtig. Man ist nicht
hier oberflächlich und dort gründlich. Man
ist das eine oder das andere in allem, was
man treibt. Und wenn ein Kunstkritiker
von einer verbreiteten Zeitung verpflichtet
worden ist, einem grossen Teil des Volkes
über neue Kunst wenigstens zu berichten,
da er doch nicht darüber urteilen kann;
wenn dieser Kunstkritiker seine Pflicht aber
nicht erfüllt, dann gibt er mir Anlass, auch
seine Gründlichkeit in Dingen der alten
Kunst zu bezweifeln. Dieses, Herr Westheim,
war einer der Exkurse, zu denen mich mein
Ausbreitungsdrang noch oft treiben wird.
Es ist möglich, dass derartige Exkurse Sie
wenig interessieren. Ich empfehle Ihnen
aber, von dieser Stelle an wieder aufmerk-
samer zu lesen. Denn ich versprach, Ihnen
Trost zu spenden. Ich wollte Ihnen zeigen,
was ein „moderner" Kritiker im Jahr 1912
von den französischen Kubisten gehalten
hat. Aber leider bin ich ein sehr umständ-
licher und unbequemer Mensch, der nicht
nur alles gründlich zu betreiben pflegt,
sondern sich jetzt in den Kopf gesetzt hat,
den Chronisten, Kunsthistorikern und Philo-
logen ihre Arbeit auf wenigstens hundert
Jahre zu erleichtern oder abzunehmen.
Ein solcher Mensch verzichtet nicht gern
auf Züge jener Menschlichkeit, die ich
Ihnen bei einem ganz „modernen" Kritiker
zeigen will.
Am 28. Oktober 1920 erteilte Herr Max

Osbom in der Vossischen Zeitung dem
Sturm eine Lehre:
„Der Sturm, der so viel Neues erkannt und
eingeprägt hat, wiil nicht aufhören, sich mit
dem Baltast der Mitläufer zu behängen, die
nur tänzeln und nichts von künstlerischer
Zucht wissen."
Warum, Herr Westheim, darf ich hohen,
dass Sie in der Lehre des Herrn Osborn
den versprochenen menschlichen Zug er-
kennen? Weil Herr Osborn weiss, dass
der Sturm so viel Neues erkannt und ein-
geprägt hat, und weil Herr Osborn ausser-
dem weiss, es aber nicht sagt, dass er
selbst das Viele früher nicht
erkannt hat. Als Herr Osborn am
1. Oktober 1912 in der B. Z. am Mittag über
„Stürmische Zeichenkunst" schrieb, hatte
er bereits den Augenblick verpasst, um mit
dieser doppelsinnigen Ueberschrift sich als
Erster den Namen eines grossen Witzbolds
zu machen. Einige Dutzend Gleichgesinnter
hatten ihm diesen Witz schon vorweg-
genommen. Jeder von ihnen glaubte, der
einzige Kopf in Deutschland zu sein, der
Scherze von so tiefer Symbolik produziere.
Um die Kritik selbst stand es nicht anders:
„Es steckt ja eine Menge Kritiklosigkeit
darin. Vor allem, und das ist nicht unge-
fährlich, viel Literatentum. Auch viel
Doktrinarismus."
Herr Westheim, bedauern Sie mich! Denn
was ist nun meine nächste Aufgabe? Zu
fragen, was sich alle die Herren wohl unter
dem Literatentum und dem Doktrinarismus
vorstellen, von dem sie seit zehn Jahren
reden und schreiben, wenn ihnen etwas
vor die Augen kommt, das in ihren Kopf
nicht hineingeht. Die Herren selbst ver-
möchten wohl kaum, eine befriedigende
Antwort zu geben, und so muss ich sie
noch obendrein über ihre eigenen Redens-
arten belehren.
Das Wort vom Literatentum stammt aus
dem Französischen. C'est de la litörature,
sagt der Franzose und meint, ein Wort, ein
Satz, eine geäusserte Ansicht oder Meinung
habe wenig oder nichts mit dem Menschen
zu tun, der sie von sich gibt. Es ist ange-
eignet, meist angelesen oder aus Äusserungen
anderer aufgeschnappt. Und da die Redens-
art auch auf Handlungen ausgedehnt wurde,
so lässt sich etwa von einem Maler sagen,
seine Bilder seien Literatur, wenn er ohne

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