Chariton präsentiert seine Protagonisten nicht als erklärbar Leidende, son-
dern als paradoxe Helden: Chaireas, obwohl kein Krieger, wird der erfolgrei-
che militärische Führer eines ÄgypteraufStandes gegen die Perser. »Todes- und
Rachelust« bewegt als Motiv die Helden, mutig zu sein und sich den Ägyptern
anzuschließen; unerkannt auf den Kriegsschauplatz mitmarschierend,68 wird
Chaireas vom König zum militärischen Berater und Höfling ernannt wegen seines
Urteilsvermögens, seiner Tatkraft, Loyalität, Bildung, physischen Konstitution
und Schönheit, aber auch seiner antipersischen Parteinahme und seines Anse-
hens wegen.69 In paradoxer Spannung zur vorausgesetzten Lage und gegen die
Erwartung des Herrschers erhält der Held des Liebesromans die überraschende
Chance, zum Kriegshelden zu werden: Chaireas schlägt eine Operation gegen
Tyros vor; die Soldaten akklamieren ihm als Kommandeur, der die Stadt durch
eine von ihm befehligte Sonderaktion tatsächlich einnehmen kann.70 Persön-
liche Bewährung — Chaireas glänzt auch als Marinekommandeur — vor Gleichen
und dem König ist ein primäres Handlungsmotiv der Helden.7’ Im Zentrum des
Romans stehen weniger unter normalen Umständen zu erwartende, sondern
paradoxe Erfahrungen;73 was der Held als Vordergrundhandlung erlebt, wider-
spricht dem üblichen Gang der Dinge. Insbesondere sein Heroismus ist in jeder
Beziehung paradox: Er ist paradox, weil im hellenistischen Großkrieg nicht jeder
Beliebige, sondern nur der vom Herrscher Beauftragte die Chance dazu hat, und
er ist paradox, weil der Held, damit die Liebesgeschichte sich erfüllen kann, als
Kommandeur nur über unzureichende Informationen über Lage und Schlacht-
verlauf verfügt. Als Hintergrund aber setzt der Roman realistische Verhältnisse
voraus, und so kann es geschehen, daß der Held nach der Einnahme von Arados
sich dessen Bevölkerung bemächtigt und die Gefangenen, nach ihrem Auslöse-
wert sortiert, zusammentreibt. Der Roman beschreibt die Niedergeschlagenheit
der Opfer: Sie kochen und essen nichts73 und erwarten »Ketten, Körperstrafen,
Vergewaltigung, Abschlachtung und — das menschenfreundlichste Schicksal —
Sklaverei«.74 Die Topik in der Darstellung dieser Kriegsopfer und ihres Leids läßt
erkennen, wie normal und verbreitet die Erwartung gefangener Stadtbürger war,
mißbraucht und umgebracht zu werden, und wie vergleichsweise vorteilhaft es
war, versklavt oder gegen Geld ausgelöst zu werden. Der Roman setzt dabei die
Ubiquität des Krieges voraus,75 allerdings nicht notwendigerweise in der Form
des großen Staatenkrieges; der Roman rechnet dabei damit, daß die Menschen
normalerweise den Krieg nicht als seine Protagonisten, sondern als Opfer erle-
ben; um des fiktionalen Effektes willen läßt er normale Träger der Opferrolle
zu Helden werden und belegt gerade dadurch, wie getrennt die spezialisierten
Erlebniswelten von Stadtbürgern und Militärs in hellenistischer Zeit wurden.
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DIE KULTUR DES KRIEGES
dern als paradoxe Helden: Chaireas, obwohl kein Krieger, wird der erfolgrei-
che militärische Führer eines ÄgypteraufStandes gegen die Perser. »Todes- und
Rachelust« bewegt als Motiv die Helden, mutig zu sein und sich den Ägyptern
anzuschließen; unerkannt auf den Kriegsschauplatz mitmarschierend,68 wird
Chaireas vom König zum militärischen Berater und Höfling ernannt wegen seines
Urteilsvermögens, seiner Tatkraft, Loyalität, Bildung, physischen Konstitution
und Schönheit, aber auch seiner antipersischen Parteinahme und seines Anse-
hens wegen.69 In paradoxer Spannung zur vorausgesetzten Lage und gegen die
Erwartung des Herrschers erhält der Held des Liebesromans die überraschende
Chance, zum Kriegshelden zu werden: Chaireas schlägt eine Operation gegen
Tyros vor; die Soldaten akklamieren ihm als Kommandeur, der die Stadt durch
eine von ihm befehligte Sonderaktion tatsächlich einnehmen kann.70 Persön-
liche Bewährung — Chaireas glänzt auch als Marinekommandeur — vor Gleichen
und dem König ist ein primäres Handlungsmotiv der Helden.7’ Im Zentrum des
Romans stehen weniger unter normalen Umständen zu erwartende, sondern
paradoxe Erfahrungen;73 was der Held als Vordergrundhandlung erlebt, wider-
spricht dem üblichen Gang der Dinge. Insbesondere sein Heroismus ist in jeder
Beziehung paradox: Er ist paradox, weil im hellenistischen Großkrieg nicht jeder
Beliebige, sondern nur der vom Herrscher Beauftragte die Chance dazu hat, und
er ist paradox, weil der Held, damit die Liebesgeschichte sich erfüllen kann, als
Kommandeur nur über unzureichende Informationen über Lage und Schlacht-
verlauf verfügt. Als Hintergrund aber setzt der Roman realistische Verhältnisse
voraus, und so kann es geschehen, daß der Held nach der Einnahme von Arados
sich dessen Bevölkerung bemächtigt und die Gefangenen, nach ihrem Auslöse-
wert sortiert, zusammentreibt. Der Roman beschreibt die Niedergeschlagenheit
der Opfer: Sie kochen und essen nichts73 und erwarten »Ketten, Körperstrafen,
Vergewaltigung, Abschlachtung und — das menschenfreundlichste Schicksal —
Sklaverei«.74 Die Topik in der Darstellung dieser Kriegsopfer und ihres Leids läßt
erkennen, wie normal und verbreitet die Erwartung gefangener Stadtbürger war,
mißbraucht und umgebracht zu werden, und wie vergleichsweise vorteilhaft es
war, versklavt oder gegen Geld ausgelöst zu werden. Der Roman setzt dabei die
Ubiquität des Krieges voraus,75 allerdings nicht notwendigerweise in der Form
des großen Staatenkrieges; der Roman rechnet dabei damit, daß die Menschen
normalerweise den Krieg nicht als seine Protagonisten, sondern als Opfer erle-
ben; um des fiktionalen Effektes willen läßt er normale Träger der Opferrolle
zu Helden werden und belegt gerade dadurch, wie getrennt die spezialisierten
Erlebniswelten von Stadtbürgern und Militärs in hellenistischer Zeit wurden.
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DIE KULTUR DES KRIEGES