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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Wütschke, Hans: Friedrich Hebbel und das Tragische
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0057
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FRIEDRICH HEBBEL UND DAS TRAGISCHE. 53

deutende, d. h. symbolische Handlung darzustellen; es kommt nur
darauf an, daß sie »vermöge des bloßen Individualisierungsgesetzes
das doch stets die politische, sittliche und religiöse Atmosphäre mit
umfaßt« (Br. an Kühne, 16. 6. 48), den Punkt erreicht, wo sich im
Einzelgeschick ein allgemein-menschliches offenbart. Dasselbe will
Hebbel auch sagen, wenn er in einem nicht veröffentlichten Vorwort
zur »Judith« schreibt: »Jedes echte Kunstwerk ist ein geheimnisvolles,
vieldeutiges, in gewissem Sinn unergründliches Symbol« (T. 2. 2. 41).
In diesem Sinn ist dann jedes Drama historisch, allgemein, sozial
(M. W. ü. d. Dr. und Br. an Rüge, 15. 9. 52). * Historisch« ist also
bei Hebbel nicht in dem gewöhnlichen, engen Sinn zu fassen. Frei-
lich ist damit nicht gesagt, daß die Geschichte ohne weiteres auszu-
scheiden ist. Gerade sie bietet die bedeutendsten Stoffe. Aber sie
muß vom tragischen Dichter so verwendet werden, daß sie »ein Ve-
hikel zur Verkörperung seiner Anschauungen und Ideen« wird, nicht
aber umgekehrt, daß »der Dichter der Auferstehungsengel der Ge-
schichte« ist (M. W. ü. d. Dr.).

In zweiter Linie hat die Tragödie den Lebensprozeß an sich dar-
zustellen. Er besteht in der Entwicklung des »bedenklichen Verhält-
nisses« des Individuums dem Ganzen gegenüber. Dieser individuelle
Lebensprozeß ist nichts anderes als der Individualisierungsprozeß, der
das Allgemeine am Besonderen aufzeigt. Insofern ist jede Tragödie
sowohl an das Seiende als auch an das Werdende geknüpft, indem
sie einmal das Leben darstellt, das als Vereinzelung nicht Maß zu
halten weiß, zum anderen, indem sie an immer neuen Stoffen dar-
zulegen hat, daß der Mensch seiner Natur nach ewig denselben Ge-
setzen unterworfen bleibt (M. W. ü. d. Dr.). Der Mensch ist mit dem
Universum unmittelbar verknüpft, er ist untrennbar von dessen ewigen
Gesetzen, und eine Überhebung führt zu seinem Untergang. Der
tragische Dichter hat den Menschen da zu fassen,

»Wo das Gesetz, das ihn selbst erhält, nach gewaltigem Kampfe
Endlich dem höheren weicht, das die Welten regiert.«

(»An den Tragiker.«)

Echte tragische Kunst kann nur bestehen, wenn sie von dieser Idee
des Weltganzen und des in ihm herrschenden Sittengesetzes ausgeht.
Das Individuum tritt als solches vollkommen zurück. Es ist singulare
Erscheinung und hat nur insofern Bedeutung, als es zur Veranschau-
lichung des Unendlichen, d. i. im Hebbelschen Sinne: zur Darstellung
des Lebens notwendig ist (T. Ende 1835).

Darin aber eine entindividualisierende Tendenz (Scheunert) bei
Hebbel erkennen zu wollen, erscheint mir nicht gerechtfertigt. Selbst
die Darlegung, daß die Reduzierung der Vereinzelung auf ihre Indi-
 
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