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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Conrad, Waldemar: Der ästhetische Gegenstand, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0091
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DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.

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Hören eines Musikstückes vorliegt mit allen seinen Vorstellungen,
Gefühlen und Wollungen, die direkt oder durch mehr oder weniger
entfernte Assoziation oder rein zufällig (etwa durch das elektrische
Licht in dem Konzertsaal) hervorgerufen werden, etwa gar die »guten
Vorsätze«, die wir mit nach Hause nehmen, sondern wir scheiden
das zu dem gemeinten Gegenstand oder in das ideale Gegenstands-
feld Gehörige von dem übrigen.

In dem Falle der Musik sehen wir sofort, daß dasselbe ein zeitlich
ausgedehntes ist, denn zeitliche Erstreckung gehört zum Wesen
des musikalischen Gegenstandes.

Wie es möglich ist, einen zeitlich ausgedehnten Gegenstand »adä-
quat« oder vielmehr so zu erfassen, daß wir über ihn als zeitlich
ausgedehntes Ganzes evidente Aussagen machen können1), das ist
ein nicht in die Ästhetik gehöriges, sondern ein Problem der allge-
meinen Phänomenologie.

Uns genügt darauf hinzuweisen, daß es sich jedenfalls bei dieser
fundierenden Anschauung nicht darum handeln kann, alle Töne der
Melodie in aktueller Lebendigkeit gleichzeitig beziehungsweise in soge-
nannter primärer Erinnerung zu haben.

Wir führen uns eine Melodie vor, z. B. wieder: »Heil dir im Sieger-
kranz« — nicht etwa mit Posaunen und großem Männerchor, wie sie
etwa gedacht sein mag, sondern es genügt schon, die ersten Töne
zu pfeifen zusammen mit jenem »Und so weiter«, um mit Evidenz
aussagen zu können, daß dieselbe erstens notwendig eine zeitliche
Umgebung hat. Dieselbe besteht in einem kleinen »Hof« (der Vor-
bereitung und des Ausklingens), hierzu gehören insonderheit die sogar
in Notenschrift beigefügten »Pausen«, die vielfach wie in unserem
Beispiel den Schlußtakt vervollständigen; aber selbst das Beifalls-

*) Vorgreifend möchte ich folgende drei Fälle einander gegenüberstellen:

1. Der Gegenstand wird so erfaßt, daß wir einen Teil, eine Seite an ihm der-
artig adäquat erfassen, daß wir ein evidentes Urteil darüber fällen können.

2. Er wird so erfaßt, wie es die »Hauptansicht« des Gegenstandes fordert;
nach völliger Kenntnisnahme des Ganzen und gründlichem Studium der Details
wird das Ganze in einmaligem Anhören aufgefaßt mit all den Abstufungen von
pointierender Aufmerksamkeit bis zur Hintergrundsauffassung u. s. w., wie wir das
jetzt sogleich beschreiben werden.

3. Wie die Hauptansicht, so werden auch alle möglichen »Nebenansichten«
sukzessive ins Auge gefaßt, und erst in der Synthesis dieser kontinuierlichen Reihe
von Auffassungsakten konstituiert sich der eigentlich gemeinte ästhetische Gegen-
stand und würde er adäquat erfaßt.

Diese Forderungen werden natürlich ohne Rücksicht auf unser menschliches
oder gar unser durchschnittliches Auffassungsvermögen gestellt; sie sind zunächst
nur prinzipiell erfüllbar, d. h. widerspruchsfrei; — wie weit wir Menschen im stände
sind sie zu erfüllen, ist eine andere Frage.
 
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