114 WALDEMAR CONRAD.
unbewußt — die Loslösung von der natürlichen und naturwissenschaftlich tendierten
Gegenstandsauffassung näher liegt als dem Laien.
Werfen wir unter diesem Gesichtspunkt noch einen Blick auf die Literatur, so
finden wir in der Tat gerade hier bei der Musik einen Reichtum an feinen und
feinsten Analysen, die wir als »phänomenologisch«, wenn auch nicht direkt, so doch
nach einer leichten, aber den prinzipiellen Standpunkt betreffenden Umwendung, in
Anspruch nehmen können. — Ich selbst habe die vorstehende Analyse durchgeführt,
ehe ich noch von musiktheoretischer Literatur Kenntnis genommen hatte, nur auf
Grund einer, allerdings von frühester Kindheit an gepflegten (aktiven und passiven)
praktischen Beschäftigung mit der Musik, da es offenbar unendlich schwer ist,
bei Kenntnis der theoretischen Kompositionsgesetze noch rein, auf Grund bloßer
Anschauung den Gegenstand zu beschreiben, und ihn zu beschreiben, wie er »ge-
meint« ist, und da man sonst auch sich selbst gegenüber nie den Verdacht über-
winden kann — vielleicht nur die mitgebrachten Vorkenntnisse herausgelesen zu
haben.
Wir wollen also jetzt noch unsere, in Bezug auf Musiktheorie unbefangene,
aber bewußt phänomenologische Analyse vergleichen mit der philosophisch-, metho-
disch-naiven der Musiktheoretiker und -ästhetiker, und damit zugleich einen zu-
sammenfassenden Überblick geben; wir müssen uns aber begnügen, ein Werk als
Repräsentanten herauszugreifen, und wählen Riemanns »Elemente der musika-
lischen Ästhetik«'), das nicht nur eine der bedeutendsten neueren Erscheinungen
auf diesem Gebiet ist, sondern auch die relativ größte Verwandtschaft zu unseren
Ausführungen zu besitzen scheint; wollen dies aber etwas eingehend besprechen.
Als allgemeine Aufgabe der »Kunstästhetik«, der »Ästhetik« im engeren Sinne,
sieht er an »die Betrachtung von Kunstwerken und Kunstwirkungen2), ihre Ent-
stehungsbedingungen (!), ihre in sich gesetzmäßige Bildung aufweisend und die
Elemente ihrer Wirkung auf den Beschauer oder Hörer in ihren Wechselbeziehungen
analysierend«. Entsprechend wird auch die Analyse des Tones, speziell der Ton-
höhe, eingeführt als »Untersuchung der einzelnen Faktoren der musikalischen Wir-
kung« (!)3) u. s. w.
Daraus geht hervor, daß sein Ausgangspunkt — wie es das Gegebene ist —
die »natürliche« Gegenstandsauffassung, das »Kunstwerk«, also das Naturobjekt
»Tonfolge«, die »Wirkung«, der Inbegriff der erzeugten Vorstellungen*) und Gefühle ist.
Während nun aber nicht nur den Physiologen, sondern auch den Psychologen
und Ästhetikern sonst die objektive Tonfolge und »der Aufweis der tatsächlich er-
folgten Sinnesreize das Wichtigere erscheint«5), ist es ihm — wie er sich ausdrückt —
nur um die »Vorstellungen« zu tun, »seien es tonerzeugende oder vom Ton er-
zeugte« 6).
') Spemann, Berlin und Stuttgart 1900.
=) 1. c. S. 4.
3) 1. c. S. 25.
*) I. c. S. 69.
5) Dies ist der Hauptmangel, den er in Helmholtz' »Lehre von den Tonempfin-
dungen« (1. c. S. 69 u. 32) und in Stumpfs »Tonpsychologie« empfindet (1. c. S. 51/52),
auch bei Zimmermann gelegentlich (1. c. S. 70) hervorhebt, überhaupt bei jeder Ge-
legenheit zum Ausdruck bringt. So weist er z. B. auch 1. c. S. 91 ausdrücklich für
die Kosonanz die früheren »mathematischen« und »physiologischen« Begründungen
zurück.
6) 1. c. S. 69.
unbewußt — die Loslösung von der natürlichen und naturwissenschaftlich tendierten
Gegenstandsauffassung näher liegt als dem Laien.
Werfen wir unter diesem Gesichtspunkt noch einen Blick auf die Literatur, so
finden wir in der Tat gerade hier bei der Musik einen Reichtum an feinen und
feinsten Analysen, die wir als »phänomenologisch«, wenn auch nicht direkt, so doch
nach einer leichten, aber den prinzipiellen Standpunkt betreffenden Umwendung, in
Anspruch nehmen können. — Ich selbst habe die vorstehende Analyse durchgeführt,
ehe ich noch von musiktheoretischer Literatur Kenntnis genommen hatte, nur auf
Grund einer, allerdings von frühester Kindheit an gepflegten (aktiven und passiven)
praktischen Beschäftigung mit der Musik, da es offenbar unendlich schwer ist,
bei Kenntnis der theoretischen Kompositionsgesetze noch rein, auf Grund bloßer
Anschauung den Gegenstand zu beschreiben, und ihn zu beschreiben, wie er »ge-
meint« ist, und da man sonst auch sich selbst gegenüber nie den Verdacht über-
winden kann — vielleicht nur die mitgebrachten Vorkenntnisse herausgelesen zu
haben.
Wir wollen also jetzt noch unsere, in Bezug auf Musiktheorie unbefangene,
aber bewußt phänomenologische Analyse vergleichen mit der philosophisch-, metho-
disch-naiven der Musiktheoretiker und -ästhetiker, und damit zugleich einen zu-
sammenfassenden Überblick geben; wir müssen uns aber begnügen, ein Werk als
Repräsentanten herauszugreifen, und wählen Riemanns »Elemente der musika-
lischen Ästhetik«'), das nicht nur eine der bedeutendsten neueren Erscheinungen
auf diesem Gebiet ist, sondern auch die relativ größte Verwandtschaft zu unseren
Ausführungen zu besitzen scheint; wollen dies aber etwas eingehend besprechen.
Als allgemeine Aufgabe der »Kunstästhetik«, der »Ästhetik« im engeren Sinne,
sieht er an »die Betrachtung von Kunstwerken und Kunstwirkungen2), ihre Ent-
stehungsbedingungen (!), ihre in sich gesetzmäßige Bildung aufweisend und die
Elemente ihrer Wirkung auf den Beschauer oder Hörer in ihren Wechselbeziehungen
analysierend«. Entsprechend wird auch die Analyse des Tones, speziell der Ton-
höhe, eingeführt als »Untersuchung der einzelnen Faktoren der musikalischen Wir-
kung« (!)3) u. s. w.
Daraus geht hervor, daß sein Ausgangspunkt — wie es das Gegebene ist —
die »natürliche« Gegenstandsauffassung, das »Kunstwerk«, also das Naturobjekt
»Tonfolge«, die »Wirkung«, der Inbegriff der erzeugten Vorstellungen*) und Gefühle ist.
Während nun aber nicht nur den Physiologen, sondern auch den Psychologen
und Ästhetikern sonst die objektive Tonfolge und »der Aufweis der tatsächlich er-
folgten Sinnesreize das Wichtigere erscheint«5), ist es ihm — wie er sich ausdrückt —
nur um die »Vorstellungen« zu tun, »seien es tonerzeugende oder vom Ton er-
zeugte« 6).
') Spemann, Berlin und Stuttgart 1900.
=) 1. c. S. 4.
3) 1. c. S. 25.
*) I. c. S. 69.
5) Dies ist der Hauptmangel, den er in Helmholtz' »Lehre von den Tonempfin-
dungen« (1. c. S. 69 u. 32) und in Stumpfs »Tonpsychologie« empfindet (1. c. S. 51/52),
auch bei Zimmermann gelegentlich (1. c. S. 70) hervorhebt, überhaupt bei jeder Ge-
legenheit zum Ausdruck bringt. So weist er z. B. auch 1. c. S. 91 ausdrücklich für
die Kosonanz die früheren »mathematischen« und »physiologischen« Begründungen
zurück.
6) 1. c. S. 69.