134 BESPRECHUNGEN.
von Ruskin entdeckt und zuerst verkündet worden; die Präraffaeliten hatte Ruskin
in ihren von der Kritik erschwerten Anfängen lebhaft (wenn auch mit starken Vor-
behalten) begünstigt, und William Morris nannte sich als Gewerbekünstler und
Sozialpolitiker mit Stolz einen Ruskinjünger. Gründe genug, sich mit Ruskin inten-
siv zu beschäftigen. Das Aufklärungswerk wurde mit Kraft fortgesetzt und vertiefte
sich zusehends. Die Arbeiten von Paul Clemen, Samuel Saenger, Charlotte Broicher,
Robert de la Sizeranne u. a. suchten die Kenntnis in Erkenntnis zu wandeln. Es
schien, in Übereinstimmung mit der Überzeugung berufener englischer Kritiker,
ihr höheres Ergebnis, daß an Ruskins Beitrag zur Ästhetik (nur von diesem darf
hier die Rede sein) als gelungen betrachtet werden dürfe: die Analyse der Gotik
in den »Steinen von Venedig«; die Analyse und.Psychologie der modernen Land-
schaftsmalerei (»Moderne Maler«); die Entdeckung (oder was man vor 60 Jahren
so nennen durfte) und Analyse der italienischen Primitiven; die Erweckung des
Sinnes für Heimatkunst in Gewerbe und Architektur, die Verbreitung der Erkenntnis,
daß Nutzkunst wie Idealkunst notwendig national differenziert seien. Die Erkenntnis
von Ruskins Genius und Lebenswerk wuchs, aber der erste Rausch der Begeiste-
rung verflog rasch und machte Zweifeln Platz. Man vermißte bei diesem »allezeit
Unbedachten«, in dessen produktivem Reichtum sich die Widersprüche mit Händen
greifen ließen, das System, weil man die Einheit nicht in dem notwendigen,
durch Ruskins Auge und künstlerischen Instinkt erzwungenen Einklang der Grund-
anschauungen suchte, sondern in der begrifflichen Widerspruchslosigkeit der
ästhetischen Grundprinzipien. Verworren und unklar im einzelnen, ungemein reiz-
empfänglich, sprudelnd von Gedanken und Einfällen, die der logische Faden nicht
immer einzuschnüren vermochte, vielfach naiv autodidaktisch, im Denken und Emp-
finden ganz ein Eigener, mißtrauisch gegen die Überlieferung auf allen Gebieten
des geistigen und praktischen Lebens und zugleich fest im Herkommen wurzelnd,
ein Revolutionär und zugleich Aristokrat aus Instinkt und Neigung: ist Ruskin in
seiner Kunst- und Lebensanschauung doch, wenn man die Einheitsfäden zu finden
weiß, aus einem Guß. Das war nicht leicht zu zeigen. Hier waren die einzelnen
Lebensäußerungen aus dem Zentrum der Persönlichkeit, hier war jedes Kunsturteil
aus der Einheit einer unvergleichlich stark und innerlich empfundenen Kulturauf-
fassung abzuleiten; mit der Aufzählung von Problemstellungen und Problemlösungen
war noch nichts getan. Dieser Weg wurde von den wenigsten begangen. Unend-
lich leichter war freilich der Nachweis, daß Ruskins Logik sich nicht auch auf die
widerspruchslose Verknüpfung der Worte erstreckte. Von dem Mißratenen, Ver-
gänglichen aus ist die Seele einer großen Leistung nie zu erspüren. Aber der Kritik
ist doch gelungen, das Bild der machtvollen Persönlichkeit wieder schwankend zu
machen und den Gewinn, den seine Werke und Lehren deutscher Kunstkultur
bringen können, stark einzuschränken, wenn nicht als ganz illusorisch hinzustellen.
So scheint die Zeit der rechten Würdigung Ruskins in Deutschland noch nicht ge-
kommen, wo viele, die über ihn öffentlich aburteilen, die Mühe scheuen, sich die
revolutionäre Wirkung von Ruskins Kunstkritik und kunstgeschichtlicher Orientierung
historisch und biographisch begreiflich zu machen. Ich stelle daher einige Punkte
zusammen, um den Zugang zu Ruskin zu erleichtern.
3. Um Ruskin ganz zu verstehen und seinen Einfluß ganz zu würdigen, muß
man sein Leben genau kennen. Ruskin war Kunstrichter, Moralist, Kulturkritiker,
Sozialökonom, Gesellschaftserneuerer, Prophet in einer Person. Erst nacheinander,
dann zugleich. Eine Eigenschaft trieb die andere hervor. Nicht Lust an der Sen-
sation, nicht Eitelkeit, nicht der unruhig dilettantische, aus produktiver Schwäche
geborene Trieb, sich auf irgendwelchem Gebiete Ansehen und Geltung zu ver-
von Ruskin entdeckt und zuerst verkündet worden; die Präraffaeliten hatte Ruskin
in ihren von der Kritik erschwerten Anfängen lebhaft (wenn auch mit starken Vor-
behalten) begünstigt, und William Morris nannte sich als Gewerbekünstler und
Sozialpolitiker mit Stolz einen Ruskinjünger. Gründe genug, sich mit Ruskin inten-
siv zu beschäftigen. Das Aufklärungswerk wurde mit Kraft fortgesetzt und vertiefte
sich zusehends. Die Arbeiten von Paul Clemen, Samuel Saenger, Charlotte Broicher,
Robert de la Sizeranne u. a. suchten die Kenntnis in Erkenntnis zu wandeln. Es
schien, in Übereinstimmung mit der Überzeugung berufener englischer Kritiker,
ihr höheres Ergebnis, daß an Ruskins Beitrag zur Ästhetik (nur von diesem darf
hier die Rede sein) als gelungen betrachtet werden dürfe: die Analyse der Gotik
in den »Steinen von Venedig«; die Analyse und.Psychologie der modernen Land-
schaftsmalerei (»Moderne Maler«); die Entdeckung (oder was man vor 60 Jahren
so nennen durfte) und Analyse der italienischen Primitiven; die Erweckung des
Sinnes für Heimatkunst in Gewerbe und Architektur, die Verbreitung der Erkenntnis,
daß Nutzkunst wie Idealkunst notwendig national differenziert seien. Die Erkenntnis
von Ruskins Genius und Lebenswerk wuchs, aber der erste Rausch der Begeiste-
rung verflog rasch und machte Zweifeln Platz. Man vermißte bei diesem »allezeit
Unbedachten«, in dessen produktivem Reichtum sich die Widersprüche mit Händen
greifen ließen, das System, weil man die Einheit nicht in dem notwendigen,
durch Ruskins Auge und künstlerischen Instinkt erzwungenen Einklang der Grund-
anschauungen suchte, sondern in der begrifflichen Widerspruchslosigkeit der
ästhetischen Grundprinzipien. Verworren und unklar im einzelnen, ungemein reiz-
empfänglich, sprudelnd von Gedanken und Einfällen, die der logische Faden nicht
immer einzuschnüren vermochte, vielfach naiv autodidaktisch, im Denken und Emp-
finden ganz ein Eigener, mißtrauisch gegen die Überlieferung auf allen Gebieten
des geistigen und praktischen Lebens und zugleich fest im Herkommen wurzelnd,
ein Revolutionär und zugleich Aristokrat aus Instinkt und Neigung: ist Ruskin in
seiner Kunst- und Lebensanschauung doch, wenn man die Einheitsfäden zu finden
weiß, aus einem Guß. Das war nicht leicht zu zeigen. Hier waren die einzelnen
Lebensäußerungen aus dem Zentrum der Persönlichkeit, hier war jedes Kunsturteil
aus der Einheit einer unvergleichlich stark und innerlich empfundenen Kulturauf-
fassung abzuleiten; mit der Aufzählung von Problemstellungen und Problemlösungen
war noch nichts getan. Dieser Weg wurde von den wenigsten begangen. Unend-
lich leichter war freilich der Nachweis, daß Ruskins Logik sich nicht auch auf die
widerspruchslose Verknüpfung der Worte erstreckte. Von dem Mißratenen, Ver-
gänglichen aus ist die Seele einer großen Leistung nie zu erspüren. Aber der Kritik
ist doch gelungen, das Bild der machtvollen Persönlichkeit wieder schwankend zu
machen und den Gewinn, den seine Werke und Lehren deutscher Kunstkultur
bringen können, stark einzuschränken, wenn nicht als ganz illusorisch hinzustellen.
So scheint die Zeit der rechten Würdigung Ruskins in Deutschland noch nicht ge-
kommen, wo viele, die über ihn öffentlich aburteilen, die Mühe scheuen, sich die
revolutionäre Wirkung von Ruskins Kunstkritik und kunstgeschichtlicher Orientierung
historisch und biographisch begreiflich zu machen. Ich stelle daher einige Punkte
zusammen, um den Zugang zu Ruskin zu erleichtern.
3. Um Ruskin ganz zu verstehen und seinen Einfluß ganz zu würdigen, muß
man sein Leben genau kennen. Ruskin war Kunstrichter, Moralist, Kulturkritiker,
Sozialökonom, Gesellschaftserneuerer, Prophet in einer Person. Erst nacheinander,
dann zugleich. Eine Eigenschaft trieb die andere hervor. Nicht Lust an der Sen-
sation, nicht Eitelkeit, nicht der unruhig dilettantische, aus produktiver Schwäche
geborene Trieb, sich auf irgendwelchem Gebiete Ansehen und Geltung zu ver-