DIE ÄSTHETISCHE BEDEUTUNG DER SPANNUNG. 221
ästhetischer Objekte ist, da wir von vornherein eine größere Bereit-
willigkeit des Miterlebens mitbringen, von stärkeren Spannungen be-
gleitet. Diese zeigen bei der Dichtung, die ja unter den Künsten am
meisten durchgeistigt ist, eine sehr zusammengesetzte Beschaffenheit;
besonders die Spannungsempfindungen sind zu hochentwickelten Vor-
stellungen aufgebaut und sowohl untereinander als mit Spannungs-
gefühlen verknüpft. Wenn mit manchen dieser Vorstellungen keine
Gefühlsspannungen aufzutreten scheinen, so darf man sich hierdurch
nicht täuschen lassen; sie sind auch einmal schwierige Verknüpfungen
gewesen, haben aber durch die Wiederholung und Verschmelzung all-
mählich diesen Charakter verloren. Dem Eintreten in das Bewußtsein
geht doch eine Spannung vorauf, dem Erfaßtsein folgt ein Lösungsgefühl.
Die Aufnahme einer Dichtung und besonders eines Dramas ist
a'so eine fortlaufende Reihe von Spannungen und Lösungen, die
zwischen den Inhaltselementen (Vorstellungen und Gefühle) stattfinden,
rür gewöhnlich bemerken wir die feineren phonetischen, akustischen
und dynamischen Anspannungen innerhalb der einzelnen Worte gar
nicht, weil sie uns zu geläufig sind1). Sie verbergen sich unter dem
Fluß der Inhalte. Aber man lasse sich nur einmal ein beliebiges
Schriftstück staccato d. h. Wort für Wort mit Pausen vorlesen, dann
drängt sich die ganze Menge der Einzelspannungen wieder auf. Erst
•nit den syntaktischen Beziehungen beginnen die stärkeren Spannungen
yes Inhalts. Zumal in der deutschen Sprache drängt der ganze Satz
nnmer lebhafter, je mehr er zu seinem Ende kommt; denn das Verbum
n*gt den Schlußstein in den Aufbau des Sinnes und gibt dem Ganzen
^rst den festen Halt. Bei seinem Abschluß setzt ein sehr merkliches
Lösungsgefühl ein, das aber einer neu anhebenden Spannung Platz
niacht, sobald nur der vorhergehende Satz die steigenden Vorstellungen
nicht alle aufnehmen und ordnen konnte. Vor allem bei problematischem
nnalte, bei Fragesätzen, logisch unbefriedigenden Aussagen werden
Wlr sofort dem nächsten Satz zueilen. Und zwar nicht bloß, weil
leser ebenfalls zu unserem Pensum gehört; sondern weil unsere
Erstellungen, so wie sie von den vorhergehenden Sätzen aufgebaut
j^nd, innerlich hinüberdrängen. So erfüllt und löst sich zwar in jedem
atze etwas von der anfänglichen Spannung des Redners, aber es
7lrd auch neue erregt. Und erst wenn der Gegenstand »erschöpft«
lst> die Gesamtspannung des Inhalts sich in den einzelnen Sätzen ver-
wirklicht hat, haben wir den Inhalt verstanden und fühlen uns inner-
•ch beruhigt. Ist uns etwas Ungeklärtes und Widerspruchsvolles ge-
') Th. Lipps, Ästhetik I, S. 323, 340 ff., 368, 477, 519, mit weitgehender Auf-
lassung des Begriffes.
ästhetischer Objekte ist, da wir von vornherein eine größere Bereit-
willigkeit des Miterlebens mitbringen, von stärkeren Spannungen be-
gleitet. Diese zeigen bei der Dichtung, die ja unter den Künsten am
meisten durchgeistigt ist, eine sehr zusammengesetzte Beschaffenheit;
besonders die Spannungsempfindungen sind zu hochentwickelten Vor-
stellungen aufgebaut und sowohl untereinander als mit Spannungs-
gefühlen verknüpft. Wenn mit manchen dieser Vorstellungen keine
Gefühlsspannungen aufzutreten scheinen, so darf man sich hierdurch
nicht täuschen lassen; sie sind auch einmal schwierige Verknüpfungen
gewesen, haben aber durch die Wiederholung und Verschmelzung all-
mählich diesen Charakter verloren. Dem Eintreten in das Bewußtsein
geht doch eine Spannung vorauf, dem Erfaßtsein folgt ein Lösungsgefühl.
Die Aufnahme einer Dichtung und besonders eines Dramas ist
a'so eine fortlaufende Reihe von Spannungen und Lösungen, die
zwischen den Inhaltselementen (Vorstellungen und Gefühle) stattfinden,
rür gewöhnlich bemerken wir die feineren phonetischen, akustischen
und dynamischen Anspannungen innerhalb der einzelnen Worte gar
nicht, weil sie uns zu geläufig sind1). Sie verbergen sich unter dem
Fluß der Inhalte. Aber man lasse sich nur einmal ein beliebiges
Schriftstück staccato d. h. Wort für Wort mit Pausen vorlesen, dann
drängt sich die ganze Menge der Einzelspannungen wieder auf. Erst
•nit den syntaktischen Beziehungen beginnen die stärkeren Spannungen
yes Inhalts. Zumal in der deutschen Sprache drängt der ganze Satz
nnmer lebhafter, je mehr er zu seinem Ende kommt; denn das Verbum
n*gt den Schlußstein in den Aufbau des Sinnes und gibt dem Ganzen
^rst den festen Halt. Bei seinem Abschluß setzt ein sehr merkliches
Lösungsgefühl ein, das aber einer neu anhebenden Spannung Platz
niacht, sobald nur der vorhergehende Satz die steigenden Vorstellungen
nicht alle aufnehmen und ordnen konnte. Vor allem bei problematischem
nnalte, bei Fragesätzen, logisch unbefriedigenden Aussagen werden
Wlr sofort dem nächsten Satz zueilen. Und zwar nicht bloß, weil
leser ebenfalls zu unserem Pensum gehört; sondern weil unsere
Erstellungen, so wie sie von den vorhergehenden Sätzen aufgebaut
j^nd, innerlich hinüberdrängen. So erfüllt und löst sich zwar in jedem
atze etwas von der anfänglichen Spannung des Redners, aber es
7lrd auch neue erregt. Und erst wenn der Gegenstand »erschöpft«
lst> die Gesamtspannung des Inhalts sich in den einzelnen Sätzen ver-
wirklicht hat, haben wir den Inhalt verstanden und fühlen uns inner-
•ch beruhigt. Ist uns etwas Ungeklärtes und Widerspruchsvolles ge-
') Th. Lipps, Ästhetik I, S. 323, 340 ff., 368, 477, 519, mit weitgehender Auf-
lassung des Begriffes.