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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Buechler, Karl: Die ästhetische Bedeutung der Spannung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0230
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KARL BÜCHLER.

Geschichte (also von außen herangebrachtes Interesse); endlich das
Verlangen nach baldiger Abspannung, negativ und unlustvoll gefärbt.
Meistens sind viele Einzelspannungen darin verschmolzen, und je nach
dem Aufbau der Vorstellungsinhalte nehmen sie bald diese, bald jene
Wendung; aber es ist nicht so, wie die populäre Psychologie meint,
daß ein gewissermaßen konkretes Einzelding, eben das Spannungs-
gefühl, aufgerufen werde, das dann mit irgend beliebigen Vorstellungen
verknüpft werden könne. Sondern die einzelnen Vorstellungen bringen
ihre jeweiligen Spannungen mit, worin gleichsam der physiologische
Energiewert der betreffenden Vorstellungen zum Austrag kommt; und
jede eigenartig verknüpfte Vorstellungsreihe ist von einem eigenartig
zusammengesetzten Spannungsgefühl begleitet.

Mit diesen Betrachtungen soll die Aufnahme einer Dichtung nur
im allgemeinen charakterisiert sein, und ihre Hauptarten wären jetzt
näher zu beschreiben. Otto Ludwig, der ja unter allen Dramaturgen
am meisten diesen Erscheinungen nachgegangen ist, stellt geradezu
als Orundtypen auf (Studien II, S. 98): Spannung aus Neugier, oder
besser, durch Neuheit; und Spannung aus Sympathie, Teilnahme, also
vorwiegend aus Gefühl. Die erstere findet er bei den Franzosen, die
andere bei Shakespeare vorherrschend. Diese Abgrenzung hat aber
nur den Sinn einer scharfen Formulierung; es gibt Übergänge genug,
und es empfiehlt sich sogar, als weiteren Typus das objektivere Ver-
halten des abgeklärten Interesses daneben zu stellen. So erhalten wir
dann als erste Art diejenige Spannung, die im wesentlichen von der
Vorstellungsseite ausgeht und durch Neuheit wirkt; als zweite die
Anspannung durch Gefühlserregung; als dritte das Interesse für die
als wertvoll erkannte dichterische Gestaltung.

1. Die Spannung der Vorstellungen.
Es gilt als bezeichnend für ein Buch, wenn man das Bedürfnis
hat, es wiederum zu lesen und zu genießen; ebenso für den Menschen,
der es tut, und seine Zeit. Doch sind hierbei die Bücher gegenüber
Gemälden und Musikstücken im Nachteil. Wir blicken häufiger auf
ein Bild an der Wand und wiederholen öfter ein Musikstück, als daß
wir nach Büchern greifen, die uns bereits »bekannt« sind. Einmal
wenigstens die Meisterwerke unserer Literatur zu lesen, das schreibt
ja die »Bildung« vor, aber nicht, diese Lektüre zu wiederholen! Es ist,
als hätten unsere Klassiker nur einen Neuheitswert, d. h. eine augen-
blickliche, einmalige Bedeutung gehabt. Das literarische Werk wird
von dem größeren Publikum so behandelt, als wäre es nur auf die
Augenblickswirkung angelegt; so lange eben die ungewisse Spannung
auf den Ausgang anhielt, interessierte es. Auch das Drama sei nur
 
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