DIE ÄSTHETISCHE BEDEUTUNG DER SPANNUNG.
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doch typischen Menschen. Das Fesselnde ist jeweils der Schwung
des Gefühls, die starken Charaktereigenschaften und die hohen sitt-
lichen Ziele. Darauf ist die Technik der Dramen Shakespeares und
Schillers gebaut. Auch Otto Ludwig strebte danach; in immer neuen
Analysen der Stücke Shakespeares suchte er seine eigene Form zu
"nden. Dort nämlich liegt die Spannung »im Ganzen, das die Idee
verkörpert. Er [Shakespeare] sucht nicht spezielle Spannungen und
spezielle Interessen hineinzulegen neben jener großen Spannung, und
a,'es Interesse strahlt von dem Ganzen aus, beides liegt im einfachsten
Plane« (Studien I, S. 92). Auf diese große »sympathische Spannung«
kommt es ihm an, die nicht »von kleinen Verstandesspannungen ge-
duzt und aufgehoben« werden soll (ebenda I, S. 315). Als solche
Selten ihm die sogenannten dramatischen Episoden und rein äußer-
iche Verwicklungen, an deren Lösung lediglich der Verstand beteiligt
■st. Aber die Hauptsache ist die Spannung und Lösung eines großen
Affektes. Seit der Sturm- und Drangzeit haben auch bei den Deutschen
aie Affekte eine höhere Bewertung erfahren. »Was das Publikum jetzt
eigentlich will, ist die Spannung aller Kräfte in drastischer Weise«
(ebenda II, S. 187). Da ist nichts mehr zu verspüren von der früheren
Absicht auf Belehrung und der Vernünftelei, von rührseliger Ergötzung
an der Literatur. »Die pragmatische Kausalität und Spannung« (I, S. 209),
dje den Verstand mitbeschäftigt, ist als Faden der Handlung zwar
n'cht zu vermeiden; und in der Tragödie besonders muß die Spannung
*an dem Faden des ethischen Grundgedankens gehen« (II, S. 430).
Aber für den ästhetischen Genuß steht »das Spannungsleben« (II, S. 82),
aer Affekt im Vordergrund. Von den vielen Äußerungen Otto Lud-
Wlgs über Spannungsgefühle und deren Veränderungen sei wenigstens
~le eine hervorgehoben (I, S. 453): »Der Affekt wechselt immer zwischen
en Extremen von Sprachlosigkeit aus Schwäche, zwischen Überspan-
Ung und Abspannung des Gefühlsvermögens und den Graden da-
mischen«. Bei dem Suchen nach spannenden Motiven und begehrens-
erten Objekten entwickelt Otto Ludwig allmählich eine ganze Psycho-
se, eine Sprachpsychologie gewissermaßen, worin die Sprachformen
ugleich als Formen des Gefühlsaufbaues erscheinen. Durch diese
•"Wartet er ein sicheres Interesse zu gewinnen; der Hauptzweck seiner
üdien war ja, die Wurzeln des Interesses psychologisch zu begründen,
• «• auf eine allgemeine Formel zu bringen.
So ausdrücklich war nie zuvor der Spannungsaffekt als Kern der
ramatischen Wirkung bezeichnet worden. Die klassische ästhetische
neorie (Schiller, Vischer) hatte ein freies geistiges Darüberstehen ver-
angt (»Spiel«). Dies ist aber wohl oft nur eine ideale Forderung, und
Ie einzige Art von Kunstgenuß ist eben bei vielen Menschen der
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doch typischen Menschen. Das Fesselnde ist jeweils der Schwung
des Gefühls, die starken Charaktereigenschaften und die hohen sitt-
lichen Ziele. Darauf ist die Technik der Dramen Shakespeares und
Schillers gebaut. Auch Otto Ludwig strebte danach; in immer neuen
Analysen der Stücke Shakespeares suchte er seine eigene Form zu
"nden. Dort nämlich liegt die Spannung »im Ganzen, das die Idee
verkörpert. Er [Shakespeare] sucht nicht spezielle Spannungen und
spezielle Interessen hineinzulegen neben jener großen Spannung, und
a,'es Interesse strahlt von dem Ganzen aus, beides liegt im einfachsten
Plane« (Studien I, S. 92). Auf diese große »sympathische Spannung«
kommt es ihm an, die nicht »von kleinen Verstandesspannungen ge-
duzt und aufgehoben« werden soll (ebenda I, S. 315). Als solche
Selten ihm die sogenannten dramatischen Episoden und rein äußer-
iche Verwicklungen, an deren Lösung lediglich der Verstand beteiligt
■st. Aber die Hauptsache ist die Spannung und Lösung eines großen
Affektes. Seit der Sturm- und Drangzeit haben auch bei den Deutschen
aie Affekte eine höhere Bewertung erfahren. »Was das Publikum jetzt
eigentlich will, ist die Spannung aller Kräfte in drastischer Weise«
(ebenda II, S. 187). Da ist nichts mehr zu verspüren von der früheren
Absicht auf Belehrung und der Vernünftelei, von rührseliger Ergötzung
an der Literatur. »Die pragmatische Kausalität und Spannung« (I, S. 209),
dje den Verstand mitbeschäftigt, ist als Faden der Handlung zwar
n'cht zu vermeiden; und in der Tragödie besonders muß die Spannung
*an dem Faden des ethischen Grundgedankens gehen« (II, S. 430).
Aber für den ästhetischen Genuß steht »das Spannungsleben« (II, S. 82),
aer Affekt im Vordergrund. Von den vielen Äußerungen Otto Lud-
Wlgs über Spannungsgefühle und deren Veränderungen sei wenigstens
~le eine hervorgehoben (I, S. 453): »Der Affekt wechselt immer zwischen
en Extremen von Sprachlosigkeit aus Schwäche, zwischen Überspan-
Ung und Abspannung des Gefühlsvermögens und den Graden da-
mischen«. Bei dem Suchen nach spannenden Motiven und begehrens-
erten Objekten entwickelt Otto Ludwig allmählich eine ganze Psycho-
se, eine Sprachpsychologie gewissermaßen, worin die Sprachformen
ugleich als Formen des Gefühlsaufbaues erscheinen. Durch diese
•"Wartet er ein sicheres Interesse zu gewinnen; der Hauptzweck seiner
üdien war ja, die Wurzeln des Interesses psychologisch zu begründen,
• «• auf eine allgemeine Formel zu bringen.
So ausdrücklich war nie zuvor der Spannungsaffekt als Kern der
ramatischen Wirkung bezeichnet worden. Die klassische ästhetische
neorie (Schiller, Vischer) hatte ein freies geistiges Darüberstehen ver-
angt (»Spiel«). Dies ist aber wohl oft nur eine ideale Forderung, und
Ie einzige Art von Kunstgenuß ist eben bei vielen Menschen der