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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Richter, Raoul: Richard Dehmels "Zwei Menschen" als Epos des modernen Pantheismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0403
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RICHARD DEHMELS ZWEI MENSCHEN.

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schauung, deren Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ihr, wenn
nicht gleichgültig, so doch jedenfalls nicht Selbstzweck ist. Die Philo-
sophie will Wahrheit, und bedient sich als Werkzeug der Begriffe,
mit denen sie die Gesetze der Wirklichkeit abzubilden, zu »erkennen«
sucht. Die Religion geht auf den Besitz des höchsten Gutes, und
nimmt zu dem Zweck mit dem Gemüt, d. h. mit Wille und Gefühl,
zu Gott und Welt Stellung. Das sind die scharfen Trennungslinien,
die reine Kunst, reine Philosophie, reine Religion voneinander scheiden1).
Aber die Forderung solcher idealen Grenzen bedeutet nicht, daß
die drei Geistesgrößen ohne alle Beziehungen und ewig fremd neben-
einander herlaufen müßten. Sie brauchen es auch nicht einmal in ein
Und demselben Geisteserzeugnis, in ein und demselben Werke, sie
brauchen es auch in unserem Werke nicht zu tun. Diese Beziehungen
können allerdings, wo eine Funktion in das Gebiet der anderen zu Un-
echt übergreift, einander störend kreuzen und zu unreinen Mischungen
führen. Das ist etwa der Fall, wo die Kunst Erkenntnis verbreiten
W'H (wie in der didaktischen Dichtung und dem Tendenzstück), oder
wo die Philosophie ästhetisch erfreuen möchte und dabei die Schön-
heit die Wahrheit notzüchtigt (wie in den künstlerisch verfälschten
Lehrgebäuden so mancher Romantiker); wo die Religion mit den beiden
anderen Mächten unglückliche Ehen eingeht (man denke etwa an zahl-
lose Choraltexte, in denen selbst der Reim sich an der Tüchtigkeit
der Gesinnung statt am Wohlklange zu messen scheint; oder an die
üblichen Predigten, in denen Erbauung auf Kosten der Erkenntnis
und doch nicht ohne den Anspruch, solche zu geben, getrieben wird).
Der Zusammenhang zwischen diesen Gebieten kann aber auch in
einem reinen Verhältnis sich offenbaren, in dem jede Betätigung ihre
t'genart nach Kräften wahrt. Das ist dort der Fall, wo die Funktionen
sich auf das gleiche Objekt, auf denselben Stoff werfen, und die Kunst

lesen Gegenstand vermittels der phantasiemäßig modifizierten An-
schauung zur Schönheit zu gestalten, die Philosophie ihn vermittels
Qer Begriffe in seiner Wirklichkeit zu erkennen, die Religion ihn mit

em Gefühl in seinem Wert zu erfassen, ihn zu lieben oder zu hassen

•"achtet. Das Objekt der Religion und der Philosophie ist immer das

gleiche; das Objekt der Kunst kann mit dem der Religion und der

nilosophie zusammenfallen. Aber auch dann ist der Mensch mit

') Da aber Reinheit im Sinne der Norm, der Idee, des Ideals niemals »gegebene,
andern immer nur »aufgegeben« ist, so verlieren diese Trennungslinien schon für
. empirischen Gestaltungen, die geschichtlichen Philosophien, positiven Religionen,
«^nzelnen Kunstwerke an Schärfe, um in der, ganz von hemmenden Zufälligkeiten
^stimmten Pseudokunst, Pseudophilosophie, Pseudoreligion immer mehr zu ver-
schwimmen.
 
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