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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Spitzer, Hugo: Der Satz des Epicharmos und seine Erklärungen, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0429
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DER SATZ DES EPICHARMOS UND SEINE ERKLÄRUNGEN.

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Fällen trotzdem nie eine Abweichung von dem normalen ästhetischen
Verhalten beobachtet, soweit dieses eben aus den Tatsachen der
Sexualität erschlossen wird. Wie fatal solche Abweichung wäre,
wie wenig beneidenswert sich dann die Lage der Viehmägde ge-
stalten müßte, braucht man wohl nicht auszumalen. Bei der höchst
zweifelhaften Berechtigung, Schönheitssinn und Sexualität so zu ver-
knüpfen, wie unsere moderne biologische Ästhetik will, hätten indes
beide Instanzen wenig zu sagen. Von ganz entscheidender Bedeutung
aber ist dasjenige, was endlich drittens die Schätzung der Eigen-
gattungsschönheit beim Menschen lehrt. Denn man darf nicht ver-
gessen, daß die Eigengattungsschönheit des Menschen nicht bloß ein
Fall der vermeintlichen komparativ-psychologischen Regel, sondern der
einzige uns wirklich bekannte, in seinem inneren Gepräge durchsichtige
*"all ist, und wenn einerseits die heute wohl in allen Unbefangenen
lebendige Überzeugung von der Wesensgleichheit zwischen Mensch
und Tier, die Erkenntnis der Torheit einer Exemtion des Menschen
a.us dem Reiche der ganzen Animalität unzweifelhaft der biologischen
Ästhetik als das beste, solideste Stück ihres Fundaments zu Grunde
"egt, wenn so gerade die richtige allgemeine Auffassung des Verhält-
nisses unserer Gattung zu den höheren Tieren, freilich in einer viel-
'eicht weniger richtigen Anwendung und Ausgestaltung, zu der An-
nahme der tierpsychologischen Norm geführt hat, der sich die ästhe-
tische Schätzungsweise des Menschen als Spezialfall unterordnet, so
lst anderseits doch klar, daß alle Orientierung nur von diesem letzteren
*"aIle, nach dessen Muster die übrigen gedacht werden, ausgehen
kann. Die Ästhetik des Menschen — der Genitiv darf hier in doppelter
Bedeutung genommen werden, so daß er gleichzeitig das Subjekt und
Qen Gegenstand des ästhetischen Wohlgefallens ausdrückt — gibt
uns nun untrügliche Beweise an die Hand, daß gewisse Folgen nicht
zutreffen, die jedenfalls aus jener assoziationspsychologischen Erklä-
rung abgeleitet werden müßten. Man müßte erwarten, daß die Schön-
elt der eigenen Gattung sich vorzugsweise in dem Anblick der
,j"egepersonen verwirklicht findet oder daß, wenn schon dies nicht
er Fall ist, wenn — merkwürdig genug! — die Gefühlsassoziation
nur den allgemeinen Typus, nicht die konkreten, individuellen Züge
Reizvoll macht, wenigstens die ästhetische Reaktion auf die einzelnen
jjrscheinungen innerhalb des Gattungstypus indifferent bleibt und daß
keine Verschiebung des Werturteils zu Ungunsten jener an der Pflege
beteiligten Individuen stattfindet. Beide Voraussetzungen werden durch
. Erfahrung widerlegt. Die Häßlichkeit einer braven, gewissenhaften,
liebevollen Kindsfrau, und zwar eine Häßlichkeit, die das Kind selber
Unit und oft rücksichtslos ausspricht, sobald es ästhetischer Schätzungen

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. III. 28
 
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