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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Spitzer, Hugo: Der Satz des Epicharmos und seine Erklärungen, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0447
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DER SATZ DES EPICHARMOS UND SEINE ERKLÄRUNGEN.

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was soll erklärt werden? Doch wohl die literarhistorische Tatsache,
daß er das blonde Weib in einer Dichtung verherrlichte, die keines-
wegs für seine Stammesgenossen, welche er selber gewiß nicht als
solche gekannt, zu denen er sich niemals gerechnet hat, sondern für
das Volk bestimmt war, in dessen Mitte er aufwuchs und als dessen
Sohn er sich natürlicherweise betrachten mußte. Diesen Unterschied
zwischen dem, was die Erklärung leistet, und dem, was sie leisten
soll, geringachten hieße sich gründlich falsche Vorstellungen über das
Verhältnis machen, in welchem der Dichter zu seinem Publikum stand.
Ein moderner »Ästhet« und »Übermensch« der Frank Wedekindschen
Dichtung mag ja wohl, mit grandioser »Genialität« die Dekadenzidee
zu Ende denkend, seine Leser für den Typus siecher, degenerierter,
mißgebildeter, nicht nur moralisch, sondern auch physisch verzerrter
Menschen, für anämische, bucklige, schielende, kropfige, hinkende
Schönheiten zu begeistern und die von der »Moderne« präparierten
Gemüter, indem er ihnen dieses ästhetische Ideal ins Gesicht schleu-
dert, »künstlerisch« noch weiter zu »erziehen« suchen. In den Zeiten,
da der »Don Quixote« entstand, war man noch nicht so fortge-
schritten. Auch ein Cervantes hätte es kaum wagen dürfen, sich in
ausgesprochenen Gegensatz zum Schönheitssinn seines Landes zu
stellen, und er hat es sicherlich nicht versucht. Denn die Leute zu
seinem eigenen Geschmack bekehren, eine Umwälzung ihrer An-
wehten über menschliche Schönheit und Häßlichkeit dadurch herbei-
führen zu können, daß in einem Buche, welches aus anderen Gründen
'hren Beifall fand, ein neues ästhetisches Menschenideal aufgestellt
Wurde, durfte er ja doch nicht hoffen, weil eben jene Ansichten, un-
gleich den Vorstellungen über Modeschönes, niemals auf Autorität be-
ruhen, sondern in einem so zwingenden, obschon vielleicht dann und
Wann durch Assoziationen vermittelten Gefühlseindrucke wurzeln, daß
der Einzelne sie weder empfehlen noch befehlen, weder hinweg-
schmeicheln noch fortdekretieren kann. In dem Manne aber, der ein
so wunderbar scharfes Auge für die ritterlichen Torheiten seiner
Ration und seines Zeitalters besaß, ist wohl auch im übrigen genug

ntischer Sinn rege gewesen, daß er sich hütete, den Ruhm, den ihm

■e köstliche Erzählung von den Abenteuern des Ritters aus der Mancha
^nbringen mußte, mutwillig zu schmälern. Die Annahme also, der

'chter habe in jenen Schilderungen einen ganz aparten, von dem

hetischen Fuhlen seiner Landsleute radikal abweichenden Geschmack

Zu Worte kommen lassen, streitet wider alle Wahrscheinlichkeit. Selbst

enn Cervantes eine allmähliche Bildung oder Erziehung des Schön-
ssinns durch die Kunst und Poesie auch in diesem Stück erhoffte,
mußte er sich doch sagen, daß im Beginn des Erziehungswerkes die
 
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