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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Spitzer, Hugo: Der Satz des Epicharmos und seine Erklärungen, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0450
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HUGO SPITZER.

Parallelisierung des menschlichen und des tierischen Schönheitssinnes
sich ergebenden Fragestellungen ausdrücklich betont; sollten aber auch
andere Formulierungen, Bezugnahmen auf bestimmte Fakta des Tierlebens
und dergleichen den Leser seltsam und wunderlich angemutet haben, so
entsprach dies durchaus meinen Intentionen. Je wunderlicher, desto
besser, d. h. ein umso stärkeres Bewußtsein von der Kühnheit und
Unwahrscheinlichkeit der populären Annahmen gelang es mir hervor-
zurufen. Es gibt Hypothesen, die als vortreffliche Gebilde erscheinen,
wenn man sie von weitem betrachtet; rückt man ihnen aber auf den
Leib und faßt man ihre Züge genau ins Auge, so wird aus dem
wohlgebildeten Antlitz i,sekie Fratze und die korrekten Gestaltungen
wandeln sich in Monstrositäten um. In der leichten, brillanten
Skizzierung eines Nordau oder Max Burckhard wirkt die Erklärungs-
weise der biologischen Ästhetik, die Idee der Geschmacksselektion
geradezu faszinierend, sowie auch die Regel der Eigengattungsschön-
heit, eine der Grundlagen dieser Ästhetik, sofern sie ihr ein Gebiet für
ihre Erklärungen zuweist, schon in der uralten Foranel des Epicharmus
für den gemeinen Mann vollste Überzeugungskraft hat. Versucht man
aber jenes Erklärungsprinzip und diese Regel im einzelnen durchzu-
führen, dann ändert sich die Situation, und mit ärgerlichem Erstaunen
findet man sich in ein Netz der schlimmsten Ungereimtheiten ver-
strickt. Darum hat es auch gar keine Bedeutung, wenn in einer Reihe
von Fällen die Buffonsche Betrachtungsart versagen sollte, weil hier
die Bedingungen für die Aktion des Gewohnheitsfaktors fehlen: der
Satz des Epicharmus ist kein allgemeines Axiom und die Gattenwahl
der Tiere kann ebensogut von den Empfindungsgefühlen niederer,
chemischer Sinne geleitet sein, als unter der Herrschaft ästhetischer
Eindrücke stehen. Zu bestimmen, ob und inwieweit sich das Feld
der wirklichen Geltung des Satzes umgrenzen läßt, ist wieder nicht
meine Sache; ich habe auch nach dieser Richtung nicht Lösungen
bieten, sondern auf Probleme hinweisen wollen. Vor allem aber wollte
ich dartun, daß heikle, verwickelte, vielleicht unlösbare Probleme da
in der Tat vorliegen, wo die große Menge die selbstverständlichsten
Dinge sieht.
 
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