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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0471
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BESPRECHUNGEN.

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Pirro ist ihm nun mit einer weiter ausholenden, zugleich mehr ins Detail gehen-
den, durchaus selbständigen Arbeit gefolgt. Über Dreiviertel des umfangreichen
Buches dient der Untersuchung der Bachschen Tonsprache auf ihren Ausdruckswert
und -gehalt, der an ungemein zahlreichen, mit erstaunlichem Fleiß zusammen-
gestellten, Pirros gründliche Kenntnis des Bachschen Werkes erweisenden Beispielen
klar und überzeugend dargelegt wird. Die Resultate sind in ihrer festen Bestimmt-
heit und Gesetzmäßigkeit auch für den überraschend, dem die Prinzipien, nach
denen sie gefunden, nicht neu sind. Wird man auch manche Interpretationen Pirros
als gewagt bezeichnen müssen, nicht mit jeder Auslegung einverstanden sein, der
überwiegende Eindruck ist doch der, daß es ihm gelingt, durch feinsinniges Nach-
spüren und glückliches Kombinieren Tatsachen festzustellen. — Mit Recht behandelt
er Bach nicht als abseits von seinen Zeitgenossen Stehenden, sondern setzt ihn in
enge Beziehung zu ihnen und seinen Vorgängern und betont unter Ausnützung
zahlreicher Notenbeispiele immer wieder, daß Bach nicht nur in den Prinzipien
seiner Tonsprache nicht von ihnen abweicht, sondern daß die Elemente und Formen
des Ausdrucks für bestimmte Affekte oder Bilder die gleichen, oft zu selbstver-
ständlichen Formeln geworden sind. Gern aber hätte man anderseits eine Dar-
legung gefunden, wie sehr Bach doch auch in der Anwendung des Gemeinsamen
seine Zeitgenossen überragt, wie und wodurch er auch im Formelhaften die Kraft
des Ausdrucks zu erhöhen weiß.

Die praktische Musik und theoretische Literatur des 18. Jahrhunderts kennt Pirro
£anz ausgezeichnet und weiß sie im einzelnen treffend heranzuziehen und geschickt
zu benützen; aber er extrahiert nicht die allgemeinen Grundzüge, stellt nicht die
entscheidenden Prinzipien zusammen. Hätte er das getan, auf diese Weise einen
Überblick über die ästhetischen Zeitanschauungen gewonnen und gegeben, und
*uf dieser Grundlage sein Buch aufgebaut, d. h. seine Darstellung nicht nach den
Ausdrucksmitteln, sondern nach den Gegenständen des Ausdrucks gegliedert, dann
hätte er den Hauptmangel seiner Arbeit vermieden: das Steckenbleiben in den
Einzelheiten. Die Einteilung nach den Mitteln des Ausdrucks zwingt Pirro zudem
2u dauernden Wiederholungen und Rückverweisungen und läßt ihn zur Vermeidung
nochmaliger Darlegung der bei Untersuchung der Vokalmusik gewonnenen Resultate
d'e reine, programmlose Instrumentalmusik in einer Kürze abtun, die das Wesent-
liche nicht zu seinem Rechte kommen läßt. Hier gerade wäre die wichtigste, aber
auch schwierigste Aufgabe zu lösen gewesen, hier hätte gezeigt werden müssen,
daß die Rechnung stimmt: wenigstens ein größeres Instrumentalstück hätte von
Takt zu Takt auf seinen Ausdrucksgehalt an der Hand der festgelegten Ergebnisse
analysiert werden müssen. — Auch läßt sich die Trennung von melodischen, rhyth-
mischen und harmonischen Elementen nicht unbedingt durchführen, eins greift ins
andere über. Wenn Bach z. B. in dem bekanntesten Rezitativ der Matthäuspassion
(B. G. IV, S. 249) auf die Worte »die Gräber taten sich auf«, um das Klaffen der
Erde darzustellen, die Singstimme in einer als querständig zu bezeichnenden Linie
führt, was Pirro übrigens nicht erwähnt, so hat man es äußerlich wohl mit einem
Melodischen Element der Tonsprache, in Wahrheit mehr mit einem harmonischen
Ausdrucksmittel zu tun. Zudem wird infolge der scharfen Sonderung der Ausdrucks-
elemente nicht klar,, in welchem Wertverhältnis sie für Bach zueinander stehen,
"ach welchen Prinzipien er sie gehäuft oder getrennt anwendet. Wohl wird hie
Und da darauf hingewiesen, wie Bach in dieser Beziehung vorgeht: aber es wird
n'cht zusammengefaßt, nicht das Allgemeine herausgeschält. Dieser Mangel macht
sich mehrfach fühlbar. Wohl finden sich Bemerkungen, daß Bachs Darstellung vom
außeren Bilde ausgeht, nicht aber wird die Grundthese dargetan, daß die Bachsche
 
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