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PAUL WESTHEIM.
der Irrtum festgestellt war. Die Neigung, Wortbilder flüchtig zu er-
raten, zeigt sich aber noch stärker an den Fällen, wo der Leser, ohne
etwas zu merken, über tatsächlich vorhandene Druckfehler hinwegliest.
An mir selbst konnte ich kürzlich folgendes schlagende Beispiel fest-
stellen: ich las in einer Zeitschrift einen Aufsatz. Nach Beendigung
der Lektüre liest einer meiner Bekannten den gleichen Aufsatz und
fragt mich, ob ich denn keinen sinnstörenden Druckfehler bemerkt
habe. Tatsächlich stand da: »Daß nicht mehr und nicht schlimmeres
war, werde ich durch die eidliche Vermehrung meiner Wirtin be-
weisen« x). Mir war nichts aufgefallen; ich hatte jedenfalls ganz richtig:
eidliche Vernehmung gelesen. Schließlich weiß jeder, der sich einmal
beim Korrekturlesen beobachten konnte, daß hier die Aufgabe darin
besteht, jene Neigung, aus den einfachsten Andeutungen zu erraten,
möglichst zu unterdrücken, um durch die eingehendere Betrachtung
des Buchstabens etwaige Druckfehler leichter zu finden. Nach den
Beobachtungen von Erdmann und Dodge nimmt bei einem derartigen
Lesen die Zahl der Buchstaben im Abschnitt fast um die Hälfte ab.
Das Auge wird also gezwungen, eine größere und schwierigere Arbeit
zu leisten — eine Arbeit, die es sich sonst wesentlich erleichtert. Ich
möchte daraus folgern, daß meist dem Sinne nach gelesen wird,
wobei Einzelformen der Buchstaben, solange ihr Grundcharakter un-
berührt geblieben ist, kaum erkannt werden. Daß der »Bedeutungs-
zusammenhang des Satzes jedenfalls eine größere Rolle spielt«, wird
auch von F. Schumann2) behauptet. Aus dem modernen Impressionis-
mus könnten wir vielleicht für dieses besondere Gebiet lernen, wie
das Auge der meisten Menschen sich mit der großen Kontur begnügt.
Die genaue Erfassung der einzelnen Details, die wir auf den Bild-
werken von Meissonnier und Menzel bewundern, erscheint für unser
normales Auge als außergewöhnliche Fähigkeit. Es liegt kein beweis-
kräftiger Grund vor, für die subtile Ornamentik der Buchstaben eine
Ausnahme anzunehmen. Betrachtungen über die Leserlichkeit
einer Schrift werden wohl von der Wortsilhouette aus-
gehen müssen.
Verschiebt man den Schwerpunkt des Lesevorganges in der Rich-
tung des geistigen Endzieles, so wird man verstehen können, daß ein
und dieselbe Schrift für ein und dieselbe Person bei der Verwendung
in verschiedenen Texten eine verschiedenartige Leserlichkeit haben
') Die Zukunft 1908, S. 219.
2) F. Schumann, Psychologie des Lesens, Bericht über den II. Kongreß für
experimentelle Psychologie, Leipzig 1907, wo auch die Unterschiede zwischen
dem tachistoskopischen und dem gewöhnlichen Lesen besonders hervorgehoben
sind.
PAUL WESTHEIM.
der Irrtum festgestellt war. Die Neigung, Wortbilder flüchtig zu er-
raten, zeigt sich aber noch stärker an den Fällen, wo der Leser, ohne
etwas zu merken, über tatsächlich vorhandene Druckfehler hinwegliest.
An mir selbst konnte ich kürzlich folgendes schlagende Beispiel fest-
stellen: ich las in einer Zeitschrift einen Aufsatz. Nach Beendigung
der Lektüre liest einer meiner Bekannten den gleichen Aufsatz und
fragt mich, ob ich denn keinen sinnstörenden Druckfehler bemerkt
habe. Tatsächlich stand da: »Daß nicht mehr und nicht schlimmeres
war, werde ich durch die eidliche Vermehrung meiner Wirtin be-
weisen« x). Mir war nichts aufgefallen; ich hatte jedenfalls ganz richtig:
eidliche Vernehmung gelesen. Schließlich weiß jeder, der sich einmal
beim Korrekturlesen beobachten konnte, daß hier die Aufgabe darin
besteht, jene Neigung, aus den einfachsten Andeutungen zu erraten,
möglichst zu unterdrücken, um durch die eingehendere Betrachtung
des Buchstabens etwaige Druckfehler leichter zu finden. Nach den
Beobachtungen von Erdmann und Dodge nimmt bei einem derartigen
Lesen die Zahl der Buchstaben im Abschnitt fast um die Hälfte ab.
Das Auge wird also gezwungen, eine größere und schwierigere Arbeit
zu leisten — eine Arbeit, die es sich sonst wesentlich erleichtert. Ich
möchte daraus folgern, daß meist dem Sinne nach gelesen wird,
wobei Einzelformen der Buchstaben, solange ihr Grundcharakter un-
berührt geblieben ist, kaum erkannt werden. Daß der »Bedeutungs-
zusammenhang des Satzes jedenfalls eine größere Rolle spielt«, wird
auch von F. Schumann2) behauptet. Aus dem modernen Impressionis-
mus könnten wir vielleicht für dieses besondere Gebiet lernen, wie
das Auge der meisten Menschen sich mit der großen Kontur begnügt.
Die genaue Erfassung der einzelnen Details, die wir auf den Bild-
werken von Meissonnier und Menzel bewundern, erscheint für unser
normales Auge als außergewöhnliche Fähigkeit. Es liegt kein beweis-
kräftiger Grund vor, für die subtile Ornamentik der Buchstaben eine
Ausnahme anzunehmen. Betrachtungen über die Leserlichkeit
einer Schrift werden wohl von der Wortsilhouette aus-
gehen müssen.
Verschiebt man den Schwerpunkt des Lesevorganges in der Rich-
tung des geistigen Endzieles, so wird man verstehen können, daß ein
und dieselbe Schrift für ein und dieselbe Person bei der Verwendung
in verschiedenen Texten eine verschiedenartige Leserlichkeit haben
') Die Zukunft 1908, S. 219.
2) F. Schumann, Psychologie des Lesens, Bericht über den II. Kongreß für
experimentelle Psychologie, Leipzig 1907, wo auch die Unterschiede zwischen
dem tachistoskopischen und dem gewöhnlichen Lesen besonders hervorgehoben
sind.