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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Westheim, Paul: Künstlerische Schriftformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0575
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KÜNSTLERISCHE SCHRIFTFORMEN. 567

kann. Bei der gleichen Type wird jemand zweifellos ein belletristi-
sches Werk bequemer lesen als eine wissenschaftliche Abhandlung;
ein Werk in der Muttersprache wird ebenfalls optisch leichter lesbar
sein als ein mit den gleichen Lettern gedrucktes Werk in einer frem-
den Sprache. Anderseits wird ein gewandter Leser — etwa ein Mensch,
der fortgesetzt lesen und schreiben muß — jedenfalls eine Schrift noch
ohne Schwierigkeiten bewältigen können, wo ein Handarbeiter mit
seinem in dieser Richtung weniger geschulten Auge über eine mangel-
hafte Lesbarkeit klagen würde. Daß diese subjektiven Unterschiede
tatsächlich eine große Rolle spielen, wird niemand zu bestreiten wagen.
Jedenfalls war es ein wesentlicher Fortschritt für alle derartigen Be-
trachtungen, als Larisch gegen das Dogma der absoluten Leserlichkeit
ankämpfte, wenn er unter Berücksichtigung der zahlreichen Imponde-
rabilien die Leserlichkeit überhaupt nur als einen »relativen
Begriff« gelten lassen will. Die übliche unpräzise Frage: »Ist diese
Schrift leserlich?« müßte seiner Meinung nach lauten: »Für wen ist
diese Schrift gut leserlich?«x). Alle psychologischen Erfahrungen
sprechen in der Tat für diese Ansicht. So wenig wir uns einen
Normalmenschen denken können, so wenig wird sich eine Normal-
leserlichkeit feststellen lassen. Daher konnten alle Untersuchungen,
die auf einer solchen Voraussetzung fußten, zu keinem brauchbaren
Ergebnis führen. Jedenfalls ist es ein Widersinn, für das »bewegte
Sehen« beim Lesen eine Grundlage zu benutzen, die aus der ruhigen
Betrachtung einzelner, unzusammenhängender Buchstaben gewonnen
war. Wenn z. B. solche Versuche eine Schwierigkeit in der Unter-
scheidung von S und S ergaben, so ist damit noch lange nicht ge-
sagt, daß Worte wie Saum, traten, Sasall oder Serwüstung als Saum,
traten, Sasall und Serwüstung gelesen werden könnten. Bei Abc-
schülern wären solche Verwechslungen möglich; wer aber nur ein
Wenig mit Sinn und Verstand zu lesen gewohnt ist, wird in solchen
Fällen wohl nie stolpern. Gustav Kühl, der wohl der vorzüglichste
Kenner unseres Schriftwesens war, erklärt daher mit Recht: »Die Ex-
perimente der Augenärzte sind ungenügend, da sie eben nur Unter-
suchungen des ruhigen Sehens sind. Einzig was die Vertreter der
empirischen Psychologie auf diesem Gebiete leisten, ist wirklich brauch-
bar« s). Die Sehprobentafel — so gut sie für die Bestimmung der
Sehschärfe ist — sollte für eine Beurteilung der Lesbarkeit wirklich
nicht mehr maßgebend sein. Daß aber noch immer angesehene

') Rudolf von Larisch, Über Leserlichkeit von ornamentalen Schriften, Wien
1Q04, S. 3.

2) Gustav Kühl, Anti-Larisch, Archiv für Buchgewerbe, 1905, S. 204.
 
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