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BESPRECHUNGEN.
Einsicht gegenüber war denn schon zum Trost die Ahnung aufgegangen, daß es
irgend eine Kraft geben möchte, in der sich das göttliche Schaffen wiederhole:
endlich fiel der erlösende Name der Kunst. Und die zweite Hälfte des Buches
übernimmt es, alle Gegensätze, in die die Idee des Schönen auseinandertrat, als
künstlerische Erscheinungsweisen und Vermögen wieder zu entdecken. Hier nötigt
nun die Logik des Zusammenhanges den glücklichsten Ansatz auf. Die göttliche
Schöpfungskraft tritt als Phantasie in das Bewußtsein des Einzelnen ein. Dem un-
vergleichlichen Vorzug, die Phantasie als den primären Begriff aller ästhetischen
Bestimmungen aufzustellen, tut es keinen Abbruch, daß der psychologischen Wirk-
lichkeit dieses Vermögens nicht weiter nachgefragt wird und es viel mehr als eine
Metapher ist, wenn dies Vermögen ein göttliches heißt. Mit einem Schlag ist das
problematische Verhältnis des Kunstwerks zur gegebenen Welt gelöst, der Streit
zwischen Idealisierung und Nachahmung wesenlos geworden; die künstlerische Her-
vorbringung kann nun auf keine außerhalb ihrer selbst vorhandene, dem gemeinen
Blick zugängliche Realität bezogen werden, sondern wird, wie sich's für den Künstler
unbewußt von selber versteht, aus der innerlichen Schau, aus der Vision, aus dem
Traum bestimmt, wo aus Ich und Nicht-Ich unzertrennbar sich das Bild gebiert.
Hier ist der Punkt, wo sich der produktive Mensch unmittelbar bestätigt fühlt, und
fünfzehn Jahre nach der Veröffentlichung des »Erwin« hat Immermann darin das
Bleibende des Buches zu ergreifen geglaubt. Das Kunstwerk ist die realisierte
»Schöpfungskraft«, und so rückt ein Begriff, der wenn irgend einer im künstlerischen
Bekenntnis des jungen Goethe lebendig war, abermals (vielleicht nicht ohne Be-
wußtsein des Zusammenhangs) an die vornehmste Stelle des ästhetischen Gebiets,
wenn das Wort gleich nicht mehr jene ergreifend sinnliche Witterung um sich herum
hat, wie damals als Goethe es aussprach. Von hier aus gelingt es auf die zarteste
und lebendigste Weise den symbolischen Charakter des Kunstwerks zu bestimmen.
Denn nun hat es gar keinen Sinn zu fragen, inwiefern es an ein Ding der Realität
erinnere oder ein heterogenes Dahinter vertrete: es bedeutet nur sich selbst, und
ist Symbol der schöpferischen Potenz, die sich in ihm auswirkt. Bedeutet und ist
sie zugleich. Wenn alle schlechte Kritik auf dem Glauben an Gegenstände, statt
an Tatsachen der Seele beruht, so kann sich an dieser Definition des Kunstwerks
als Symbol die Kritik für immer zurecht finden. Ja, Kritik im engeren Sinn kann
es überhaupt dem Kunstwerk gegenüber nicht geben; denn da das Kunstwerk nur
die eigene Idee repräsentiert, wo ist das Kennzeichen, ob es denn das wirklich tue.
Es ist selbst nur das Merkmal seiner eigenen unvergleichbaren Beschaffenheit. Es
beglaubigt sich durch sich selbst. Um es zu würdigen, muß man darin einheimisch
werden; muß man es aus ihm selbst erraten. Die gewöhnliche Beurteilung spricht
nur ein subjektives Gefallen oder Mißfallen aus (und die Kritik der Form insinuiert
doch noch der Kunst eine Aufgabe, wodurch sie eben zu ihrem kritischen Standpunkt
kommt). Kritik soll durch reine Rezeption ersetzt werden. Auch der Begriff der
Wahrhaftigkeit des Kunstwerks bekommt, von jenem Ansatzpunkt aus, einen Sinn,
den man sich gefallen lassen kann: Sie besteht darin, daß dem Künstler die Idee
von vornherein als Gestalt erscheint, daß diese nicht gewählt ist, sondern not-
wendig da. Die Echtheit und Gediegenheit des Kunstwerkes bemißt sich darnach,
inwieweit alle seine Elemente aus der einen inneren Emotion stammen, inwieweit
sie aus heterogenen Emotionen oder gar verstandesmäßig sich ergänzt haben. Nun
mischt sich freilich schon an dieser Stelle des Buches ein, was es überhaupt um den
reinen Wert ästhetischer Erkenntnis bringt: ein Element des Religiösen. Denn wenn
in der Erörterung der »Wahrhaftigkeit« fortgefahren wird: darum herrschen in der
echten Kunst überall die überlieferten Gegenstände, welche im Glauben der Völker
BESPRECHUNGEN.
Einsicht gegenüber war denn schon zum Trost die Ahnung aufgegangen, daß es
irgend eine Kraft geben möchte, in der sich das göttliche Schaffen wiederhole:
endlich fiel der erlösende Name der Kunst. Und die zweite Hälfte des Buches
übernimmt es, alle Gegensätze, in die die Idee des Schönen auseinandertrat, als
künstlerische Erscheinungsweisen und Vermögen wieder zu entdecken. Hier nötigt
nun die Logik des Zusammenhanges den glücklichsten Ansatz auf. Die göttliche
Schöpfungskraft tritt als Phantasie in das Bewußtsein des Einzelnen ein. Dem un-
vergleichlichen Vorzug, die Phantasie als den primären Begriff aller ästhetischen
Bestimmungen aufzustellen, tut es keinen Abbruch, daß der psychologischen Wirk-
lichkeit dieses Vermögens nicht weiter nachgefragt wird und es viel mehr als eine
Metapher ist, wenn dies Vermögen ein göttliches heißt. Mit einem Schlag ist das
problematische Verhältnis des Kunstwerks zur gegebenen Welt gelöst, der Streit
zwischen Idealisierung und Nachahmung wesenlos geworden; die künstlerische Her-
vorbringung kann nun auf keine außerhalb ihrer selbst vorhandene, dem gemeinen
Blick zugängliche Realität bezogen werden, sondern wird, wie sich's für den Künstler
unbewußt von selber versteht, aus der innerlichen Schau, aus der Vision, aus dem
Traum bestimmt, wo aus Ich und Nicht-Ich unzertrennbar sich das Bild gebiert.
Hier ist der Punkt, wo sich der produktive Mensch unmittelbar bestätigt fühlt, und
fünfzehn Jahre nach der Veröffentlichung des »Erwin« hat Immermann darin das
Bleibende des Buches zu ergreifen geglaubt. Das Kunstwerk ist die realisierte
»Schöpfungskraft«, und so rückt ein Begriff, der wenn irgend einer im künstlerischen
Bekenntnis des jungen Goethe lebendig war, abermals (vielleicht nicht ohne Be-
wußtsein des Zusammenhangs) an die vornehmste Stelle des ästhetischen Gebiets,
wenn das Wort gleich nicht mehr jene ergreifend sinnliche Witterung um sich herum
hat, wie damals als Goethe es aussprach. Von hier aus gelingt es auf die zarteste
und lebendigste Weise den symbolischen Charakter des Kunstwerks zu bestimmen.
Denn nun hat es gar keinen Sinn zu fragen, inwiefern es an ein Ding der Realität
erinnere oder ein heterogenes Dahinter vertrete: es bedeutet nur sich selbst, und
ist Symbol der schöpferischen Potenz, die sich in ihm auswirkt. Bedeutet und ist
sie zugleich. Wenn alle schlechte Kritik auf dem Glauben an Gegenstände, statt
an Tatsachen der Seele beruht, so kann sich an dieser Definition des Kunstwerks
als Symbol die Kritik für immer zurecht finden. Ja, Kritik im engeren Sinn kann
es überhaupt dem Kunstwerk gegenüber nicht geben; denn da das Kunstwerk nur
die eigene Idee repräsentiert, wo ist das Kennzeichen, ob es denn das wirklich tue.
Es ist selbst nur das Merkmal seiner eigenen unvergleichbaren Beschaffenheit. Es
beglaubigt sich durch sich selbst. Um es zu würdigen, muß man darin einheimisch
werden; muß man es aus ihm selbst erraten. Die gewöhnliche Beurteilung spricht
nur ein subjektives Gefallen oder Mißfallen aus (und die Kritik der Form insinuiert
doch noch der Kunst eine Aufgabe, wodurch sie eben zu ihrem kritischen Standpunkt
kommt). Kritik soll durch reine Rezeption ersetzt werden. Auch der Begriff der
Wahrhaftigkeit des Kunstwerks bekommt, von jenem Ansatzpunkt aus, einen Sinn,
den man sich gefallen lassen kann: Sie besteht darin, daß dem Künstler die Idee
von vornherein als Gestalt erscheint, daß diese nicht gewählt ist, sondern not-
wendig da. Die Echtheit und Gediegenheit des Kunstwerkes bemißt sich darnach,
inwieweit alle seine Elemente aus der einen inneren Emotion stammen, inwieweit
sie aus heterogenen Emotionen oder gar verstandesmäßig sich ergänzt haben. Nun
mischt sich freilich schon an dieser Stelle des Buches ein, was es überhaupt um den
reinen Wert ästhetischer Erkenntnis bringt: ein Element des Religiösen. Denn wenn
in der Erörterung der »Wahrhaftigkeit« fortgefahren wird: darum herrschen in der
echten Kunst überall die überlieferten Gegenstände, welche im Glauben der Völker