612
BESPRECHUNGEN.
vanni Pisano und Michelangelo ist Quercia ein ragender Übergang; äußerlich hat
er Michelangelo — darin wird man Schubring recht geben — stärker angeregt
als Donatello. Aber es geht doch etwas zu weit, wenn es bei Schubring heißt:
»Es wäre eine Entwickelungslinie denkbar, die mit Ausschaltung der ganzen floren-
tinischen Quattrocentoplastik direkt von Quercia zu Michelangelo führte.« Da wird
der grundlegende Einfluß unterschätzt, den die Architektonik Donatelloscher Ge-
staltenbildung auch auf Michelangelo ausgeübt hat. Seine Gestalten leben nicht,
wie die Quercias zumeist, von der Großartigkeit ihres Kleides, sondern ihres Leibes.
Die methodische Gründlichkeit florentinischer Schulung hat die sienesische Plastik
eben niemals erreicht oder auch nur angestrebt. Sie bleibt ständig durchsetzt mit
dem Malerischen und mit dem Streben nach heiter festlicher Wirkung, das, den
Sienesen im Blute steckt. Die sienesische Plastik kennt vor zirka 1480 keine Passions-
darstellung; sie bleibt in der Ausbildung des Grabmals weit hinter Florenz zurück
und es ist zweifelhaft, ob sie jemals eine Porträtbüste hervorgebracht habe'). Ein-
zelgestalten der Madonna und der Heiligen, sonst fast nur die Zweifigurengruppe
der Verkündigung, sind die Themata der sienesischen Quattrocentoplastik. Arbeiten
dekorativen Charakters überwiegen und in ihnen eine lockere, malerische Fülle, eine
schimmernde Schönheit, die auch die besten florentinischen Leistungen nicht er-
reichen. Zur Antike hat die Plastik Sienas, der Stadt mit dem Wahrzeichen der
Lupa, früher als Florenz ein reines Verhältnis gewonnen, vor allem durch den
humanistisch gebildeten Antonio Federighi; von seinem Bacchus, seinem Moses,
seinen gefesselten Sklaven am Weihwasserbecken des Doms führen wiederum deut-
liche Fäden hinüber zu Michelangelo. Die charakteristischste Erscheinung der sie-
nesischen Plastik aber bleiben die Malerplastiker. Auch Florenz hat diese Misch-
gattung und zwar im doppelten Sinne: Maler, die auf plastische Wirkung ausgehen
(Castagno u. a.) und Plastiker, die mit Vorliebe oder fast prinzipiell von den Kunst-
mitteln der Malerei Gebrauch machen (die Robbia u. a.). Aber dort vollzieht sich,
zuletzt durch Michelangelo, eine entschiedene Stilreinigung; Siena ist über eine
malerische Halbplastik, wie sie der innersten Natur seiner Kunst entspricht, eigent-
lich niemals hinausgelangt. Seine Plastiker gerade in der zweiten Hälfte des Jahr-
hunderts — Vecchietta, Neroccio, Francesco di Giorgio — waren und blieben zu-
gleich Maler; daher die Vorliebe für farbige Holzskulptur und Terrakotta. Aus dieser
Gruppe behandelt Schubring den vielseitigen Francesco di Giorgio mit besonders
reichem Ergebnis; seine Zuweisung der vielumstrittenen Reliefs der »Discordia«
im South Kensington Museum, der bronzenen Paxtafel mit dem Stifterporträt des Fe-
derigo von Montefeltre im Carmine zu Venedig und der Geißelung Christi in der
Universität zu Perugia an diesen geistreichen Alleskönner wirkt wie eine Befreiung
und hat Anspruch auf allgemeine Zustimmung.
Schubring hat sein Buch mit der ganzen Freude und Frische des Entdeckers
auf wenig betretenem Gebiete geschrieben; indem man diese bei der Lektüre mit-
erlebt, wird man einzelne formale Flüchtigkeiten gern übersehen. Der Verfasser
wäre der Mann dazu, uns nun auch die sienesische Plastik des Trecento, deren
Bedeutung für die florentinische Kunst bisher erst gelegentlich aufgedeckt worden
ist, als ein Ganzes darzustellen.
Greifswald. Max Semrau.
') Schubrings Zuweisungen in dieser Hinsicht bleiben hypothetisch. Anderseits
muß man gegen die Beziehung der schönen Marmorbüste bei Conte Palmieri-Nuti
auf die heilige Katharina Bedenken hegen.
BESPRECHUNGEN.
vanni Pisano und Michelangelo ist Quercia ein ragender Übergang; äußerlich hat
er Michelangelo — darin wird man Schubring recht geben — stärker angeregt
als Donatello. Aber es geht doch etwas zu weit, wenn es bei Schubring heißt:
»Es wäre eine Entwickelungslinie denkbar, die mit Ausschaltung der ganzen floren-
tinischen Quattrocentoplastik direkt von Quercia zu Michelangelo führte.« Da wird
der grundlegende Einfluß unterschätzt, den die Architektonik Donatelloscher Ge-
staltenbildung auch auf Michelangelo ausgeübt hat. Seine Gestalten leben nicht,
wie die Quercias zumeist, von der Großartigkeit ihres Kleides, sondern ihres Leibes.
Die methodische Gründlichkeit florentinischer Schulung hat die sienesische Plastik
eben niemals erreicht oder auch nur angestrebt. Sie bleibt ständig durchsetzt mit
dem Malerischen und mit dem Streben nach heiter festlicher Wirkung, das, den
Sienesen im Blute steckt. Die sienesische Plastik kennt vor zirka 1480 keine Passions-
darstellung; sie bleibt in der Ausbildung des Grabmals weit hinter Florenz zurück
und es ist zweifelhaft, ob sie jemals eine Porträtbüste hervorgebracht habe'). Ein-
zelgestalten der Madonna und der Heiligen, sonst fast nur die Zweifigurengruppe
der Verkündigung, sind die Themata der sienesischen Quattrocentoplastik. Arbeiten
dekorativen Charakters überwiegen und in ihnen eine lockere, malerische Fülle, eine
schimmernde Schönheit, die auch die besten florentinischen Leistungen nicht er-
reichen. Zur Antike hat die Plastik Sienas, der Stadt mit dem Wahrzeichen der
Lupa, früher als Florenz ein reines Verhältnis gewonnen, vor allem durch den
humanistisch gebildeten Antonio Federighi; von seinem Bacchus, seinem Moses,
seinen gefesselten Sklaven am Weihwasserbecken des Doms führen wiederum deut-
liche Fäden hinüber zu Michelangelo. Die charakteristischste Erscheinung der sie-
nesischen Plastik aber bleiben die Malerplastiker. Auch Florenz hat diese Misch-
gattung und zwar im doppelten Sinne: Maler, die auf plastische Wirkung ausgehen
(Castagno u. a.) und Plastiker, die mit Vorliebe oder fast prinzipiell von den Kunst-
mitteln der Malerei Gebrauch machen (die Robbia u. a.). Aber dort vollzieht sich,
zuletzt durch Michelangelo, eine entschiedene Stilreinigung; Siena ist über eine
malerische Halbplastik, wie sie der innersten Natur seiner Kunst entspricht, eigent-
lich niemals hinausgelangt. Seine Plastiker gerade in der zweiten Hälfte des Jahr-
hunderts — Vecchietta, Neroccio, Francesco di Giorgio — waren und blieben zu-
gleich Maler; daher die Vorliebe für farbige Holzskulptur und Terrakotta. Aus dieser
Gruppe behandelt Schubring den vielseitigen Francesco di Giorgio mit besonders
reichem Ergebnis; seine Zuweisung der vielumstrittenen Reliefs der »Discordia«
im South Kensington Museum, der bronzenen Paxtafel mit dem Stifterporträt des Fe-
derigo von Montefeltre im Carmine zu Venedig und der Geißelung Christi in der
Universität zu Perugia an diesen geistreichen Alleskönner wirkt wie eine Befreiung
und hat Anspruch auf allgemeine Zustimmung.
Schubring hat sein Buch mit der ganzen Freude und Frische des Entdeckers
auf wenig betretenem Gebiete geschrieben; indem man diese bei der Lektüre mit-
erlebt, wird man einzelne formale Flüchtigkeiten gern übersehen. Der Verfasser
wäre der Mann dazu, uns nun auch die sienesische Plastik des Trecento, deren
Bedeutung für die florentinische Kunst bisher erst gelegentlich aufgedeckt worden
ist, als ein Ganzes darzustellen.
Greifswald. Max Semrau.
') Schubrings Zuweisungen in dieser Hinsicht bleiben hypothetisch. Anderseits
muß man gegen die Beziehung der schönen Marmorbüste bei Conte Palmieri-Nuti
auf die heilige Katharina Bedenken hegen.