DER BEGRIFF DER EINHEIT.
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In der Auffassung der Einheit, scheint mir, liegt der letzte Unter-
schied zwischen naturalistischer und idealistischer Kunst, zwischen
denen wieder vermittelnd die realistische steht.
Die Kunst, sagt Zola, will ein Eckchen der Natur geben, durch ein
Temperament angeschaut; sie will, lehren noch radikalere Naturalisten,
einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit geben.
Diese letztere Auffassung opfert unbedenklich den Begriff der Ein-
heit im Kunstwerk, den die Ästhetik immer nachdrücklicher für die
Hauptsache erklärt hat. Ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit — das
»st eben nur eine summierte Reihe von Einzelheiten, die da aufhört,
wo der Rahmen anfängt. — Aber auch Zola oder Taine mit ihrer
Definition geben dem Kunstwerk noch keine Einheit, denn das persön-
liche Temperament mag (hier zeigt sich der Unterschied der beiden
Adjektive!) vereinheitlichend wirken — einheitbildend wirkt es nicht,
solange es eben nur ein Stück Natur geben will. Es mag die Gegen-
stände einheitlicher stilisieren — ein Organismus entsteht nicht durch
die Nachbildung zufälliger Gruppierungen.
Soll also das Kunstwerk ein Organismus sein, so ist ein einheit-
bildender Faktor nötig. Wir nennen ihn Komposition: die Komposition
unterscheidet die realistische und idealistische Kunst von der sie
ablehnenden naturalistischen. Die Komposition ist die Herstellung einer
abgestimmten Harmonie zwischen den Figuren, Farben, Worten, sie
•st der Ausdruck ästhetischer »Zielstrebigkeit«. — Aber sie kann über-
trieben werden; sie kann so weit getrieben werden, daß sie statt Mittel
Zweck wird. Dann ist das Werk nicht mehr eine zweckmäßige An-
ordnung, weil in der Gruppierung die Teile dann nicht mehr, sondern
weniger bedeuten und leisten, als außerhalb derselben. Jede einzelne
Figur in Kaulbachs »Zeitalter der Reformation« könnte wirken — die
Komposition vernichtet sie. Das ist die Klippe: die übertreibende
Komposition führt in den akademischen Idealismus, in das mechanische
Arrangement — das Gegenbild zur mechanischen Naturnachahmung!
Zwischen beiden aber mitteninne steht ein gesunder Realismus, der
die ursprünglich selbständigen Teile so zu erfassen, zu durchdringen,
2u ordnen weiß, daß jeder gewinnt und ein neues Ganzes entsteht,
wie im wohlgeordneten Staate. Der Realismus ist die Kunst der
schöpferischen Synthese auf ästhetischem Gebiet.
Historisch aber darf man den Satz wagen, daß, wo die Menschheit
selbst fortschreitet, überall ihre Schöpfungen eine immer höhere Ein-
heitlichkeit zeigen — das Dogma Herbert Spencers! Man überblicke
nur die literarische Entwicklung! Aus der Novellensammlung bildet
sich der einheitliche Roman, der immer strenger Entwicklungsgeschichte
einer Seele wird. Aus einer losen Folge von lyrischen und halbepischen
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In der Auffassung der Einheit, scheint mir, liegt der letzte Unter-
schied zwischen naturalistischer und idealistischer Kunst, zwischen
denen wieder vermittelnd die realistische steht.
Die Kunst, sagt Zola, will ein Eckchen der Natur geben, durch ein
Temperament angeschaut; sie will, lehren noch radikalere Naturalisten,
einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit geben.
Diese letztere Auffassung opfert unbedenklich den Begriff der Ein-
heit im Kunstwerk, den die Ästhetik immer nachdrücklicher für die
Hauptsache erklärt hat. Ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit — das
»st eben nur eine summierte Reihe von Einzelheiten, die da aufhört,
wo der Rahmen anfängt. — Aber auch Zola oder Taine mit ihrer
Definition geben dem Kunstwerk noch keine Einheit, denn das persön-
liche Temperament mag (hier zeigt sich der Unterschied der beiden
Adjektive!) vereinheitlichend wirken — einheitbildend wirkt es nicht,
solange es eben nur ein Stück Natur geben will. Es mag die Gegen-
stände einheitlicher stilisieren — ein Organismus entsteht nicht durch
die Nachbildung zufälliger Gruppierungen.
Soll also das Kunstwerk ein Organismus sein, so ist ein einheit-
bildender Faktor nötig. Wir nennen ihn Komposition: die Komposition
unterscheidet die realistische und idealistische Kunst von der sie
ablehnenden naturalistischen. Die Komposition ist die Herstellung einer
abgestimmten Harmonie zwischen den Figuren, Farben, Worten, sie
•st der Ausdruck ästhetischer »Zielstrebigkeit«. — Aber sie kann über-
trieben werden; sie kann so weit getrieben werden, daß sie statt Mittel
Zweck wird. Dann ist das Werk nicht mehr eine zweckmäßige An-
ordnung, weil in der Gruppierung die Teile dann nicht mehr, sondern
weniger bedeuten und leisten, als außerhalb derselben. Jede einzelne
Figur in Kaulbachs »Zeitalter der Reformation« könnte wirken — die
Komposition vernichtet sie. Das ist die Klippe: die übertreibende
Komposition führt in den akademischen Idealismus, in das mechanische
Arrangement — das Gegenbild zur mechanischen Naturnachahmung!
Zwischen beiden aber mitteninne steht ein gesunder Realismus, der
die ursprünglich selbständigen Teile so zu erfassen, zu durchdringen,
2u ordnen weiß, daß jeder gewinnt und ein neues Ganzes entsteht,
wie im wohlgeordneten Staate. Der Realismus ist die Kunst der
schöpferischen Synthese auf ästhetischem Gebiet.
Historisch aber darf man den Satz wagen, daß, wo die Menschheit
selbst fortschreitet, überall ihre Schöpfungen eine immer höhere Ein-
heitlichkeit zeigen — das Dogma Herbert Spencers! Man überblicke
nur die literarische Entwicklung! Aus der Novellensammlung bildet
sich der einheitliche Roman, der immer strenger Entwicklungsgeschichte
einer Seele wird. Aus einer losen Folge von lyrischen und halbepischen