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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Hernried, Erwin: Weltanschauung und Kunstform von Shakespeares Drama
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0530

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WELTANSCHAUUNG UND KUNSTFORM VON SHAKESPEARES DRAMA. 519

speareschen Sinnes darum »nicht geistig« nennen zu wollen. Aber
diese Oeistigkeit ist eine innere; sie ist nicht eigentlich metaphysisch
gerichtet. Die Blüte dieser Welt, der Geist, mag sein Antlitz sehn-
süchtig der täuschenden Ahnung eines neuen Lichtes zuwenden. Immer
bleibt sie doch Blüte, der Zweig hält sie und das Mark des Stammes
nährt sie. Dem religiösen Menschen sollen Zweig und Stamm und
schließlich selbst die Erde, die ihn trägt, zur Blüte werden.

Shakespeares Weltgefühl fehlt dieses Entwicklungsmoment. Er
kennt nichts, was man Himmel nennen könnte. Die Erde strebt keinem
Ziele zu. Das Dasein hat keine andere Aufgabe als sozusagen mit
sich selbst fertig zu werden. Das Leben hat keinen anderen Zweck
als sich selbst. Es hat nichts hinter sich zu werfen und verläßt nie
die Sphäre des reellen Seins. Alle Gärungen und Entwicklungen
vollziehen sich innerhalb seiner und bleiben stets in den Umkreis
dessen, was Leben heißt, gebannt. Es ist in jedem Augenblick ein
Ganzes und erfüllt seinen Wert in jedem Atemzuge ganz. Und nicht
in der Art geistigen Besitzes, wie etwa der Christ seinen Gott besitzt,
sondern als Lebensfunktion selbst. Alles ist da und wird von innen
her gefühlt, so restlos, mit solcher Aktivität und Hingebung, mit
solcher Inbrunst für den Augenblick, daß sich das Leben ganz mit
Leben anfüllt und keine Möglichkeit ist, es in ein Jenseits verfließen
zu lassen.

Dieses Weltgefühl Shakespeares ist von Dowden schön aus dem
Renäissancegeist heraus erklärt worden. Es ist zugleich der wahre
Geist der Antike, ehe sie sich mit Sokrates und Plato ethischen und
metaphysischen Spekulationen in die Arme warf. In ihm sehen wir
die Grundbedingung der dramatischen Kunstform überhaupt. Wie
ganz die Diesseitigkeit Bedingung ist, daß leibhaftige Menschen körper-
lich vor uns stehen und handeln, das soll hier nicht weiter ausgeführt
werden; indirekt ist es ja bereits geschehen, indem wir aus der Wirk-
lichkeit dramatischer Gestaltung auf jene allgemeine Haltung des
schöpferischen Geistes schließen durften. Was aber die große Kunst-
form des Dramas betrifft, von der wir sprechen werden, so ist sie
durchaus abhängig von einem Weltgefühl, in dem das Sein über dem
Werden, die Stetigkeit des Fundaments über dem Fließenden und
Schwebenden der Einzelgestaltung Macht hat. Wir wollen das Drama
als Raumschöpfung begreifen. In Shakespeare und dem shakespeare-
schen Menschen herrscht das Gefühl des unendlichen Raumes vor
und was sich in der Zeit begibt, ist endlich und fällt innerhalb seiner
Schranken. Hingegen für den religiösen Menschen verschwebt der
Raum, verflüchtigt sich, wird unfest vor dem ungeheuren Ziel, dem
die unendliche Zeit zuströmt. Darum ist es in der Dichtkunst die
 
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