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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 12.1917

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Görland, Albert: Die dramatische Einheit des "Kaufmann von Venedig" als einer Komödie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3621#0236

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230 BEMERKUNGEN.

Dadurch wird von Shakespeare die Idee des Zufalls bedeutsam ge-
läutert. Der glückspendende Zufall wird ganz nahe an den Schicksalsträger
selbst herangebracht und wird an seinem äußersten Zipfel ergreifbar gezeigt aus
der inneren Kraft des bedrohten Menschen. So erscheint der
Zufall aller mechanischen Treffzufälligkeit enthoben und huma-
nisiert.

Und auch darin sehen wir unsere theoretischen Erörterungen über »die Idee
des Zufalls in der Geschichte der Komödie« bewährt: Bassanio, sowenig wie
Antonio, ist ein Held der Aktivität. Seine einzige Tat ist das glückliche Erraten
des rechten Kästchens. In allem anderen müssen seine Freunde, heißen sie nun
zuvörderst Antonio oder entscheidend Portia, für ihn handeln.

Mit der Wahl des rechten Kästchens ist die Bahn des erlösenden Glückes frei-
gemacht. Die Liebe findet nun den weisesten Kenner des Rechtes, der als solcher
über dem Buchstaben des Gesetzes steht, weil er dem Geiste des Gesetzes forschend
nachgeht. In ihm nun findet der Schicksalswalter Shylock den Gegenwillen, der
ihm gewachsen ist: Sein Wort rettet den bedrohten Menschen eines guten Willens,
Bassanio und auch Antonio: Über dem Buchstaben des Gesetzes steht das Gebot
des Menschlichen, das Recht der Menschheit, die für die damalige Zeit die Mensch-
heit der — Christenheit war.

Aber daß das, was Menschheit bedeuten sollte, nur in den Schranken der
Christenheit gesehen wurde, daß nur der Christ den höchsten Schutz des
Menschen, die Unverletzlichkeit seiner Person genießen durfte, das ist der Grund,
warum der Schicksalswalter Shylock in unbesiegter Größe bestehen bleibt. Der
Geist aller Gesetzlichkeit und aller Staatshoheit ist noch nicht frei in seiner Kraft,
damit er den bösen Willen, der sich arglistig des Buchstabens des Gesetzes bedient,
besiege. Denn seine Kraft, die die Kraft freier Menschheit ist, ist eingeengt von
religiösem Dogma.

Diese Schicksalsgegnerschaft der vollen Tragik läßt also Shakespeare unent-
schieden. Der Mensch im Juden Shylock klagt nach wie vor mit ungeschwächter
Stimme den Menschen im Christen an. Die Tragödie der Schicksalsgegner-
schaft zwischen der Bosheit des Buchstabens und der zu engen Menschlichkeit
des Gesetzes wird vom »Kaufmann von Venedig« nicht zum Entscheid gebracht.
Der »Kaufmann von Venedig« ist eine klassische Komödie. Denn es gilt ihr,
einen guten Menschen, der zwischen die Gewalten eines ungeheuren Schicksals-
gegensatzes seiner Zeit geraten ist, durch einen glücklichen Zufall hinwegzuretten
zum Frieden seines Lebens.

So angesehen, wird alles Werden dieser Menschen zu einer Befreiung unserer
Seelen. Wie das Geschehen aller klassischen Komödien, so spielt auch das Ge-
schehen dieses ungeheuren Werkes auf einem tragischen Hintergrunde sich ab.
Dies tragische Geschehen scheint gutwillige, aber nicht zu Königen des Willens
geborene Menschen in seinen Wirbel hineinziehen zu wollen. Da ist es die Auf-
gabe der Komödie, dem bedrohten guten Menschen den freundwilligen Zufall zur
Seite springen zu lassen, damit er ihn aus diesem Wirbel errette, obwohl nicht
auch noch gegen das Schicksal rechtfertige. Das ist nicht die Stilangelegenheit
der Komödie. So bleibt denn Shylock als eine monumentale Schicksalsgestalt der
Shakespeareschen Zeit ungelöst bestehen, aber als solche in dieser Komödie gemäß
ihrer allgemeinen Stilforderung nur in der Bedeutung eines ernsten, ernstesten
Untergrundes zur Weihe eines dem Glück entgegenreifenden Lebens voll gutem,
lauterem Willen.
 
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