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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 12.1917

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478 BESPRECHUNGEN.

»die Möglichkeit, letzte Gründe und feinste Unterschiede des seelischen Lebens
an den durch sie bewirkten Formen zu einer wissenschaftlichen Anschauung zu
bringen«, ist vielleicht die größte Entdeckung, die die Kunstgeschichtsschrei-
bung Winckelmann zu verdanken hat. Durch Vermittlung des Stilbegriffs ge*
Iingt ihm datin auch jene meisterliche Zusammenfassung eines großen künstle-
rischen Prozesses unter den Gesichtspunkten von Aufstieg, Höhe und Verfall.
Man erkennt leicht den gewaltigen inneren Fortschritt, der hier über Vasari hinaus
geschieht. Denn während dieser den Verfall der Kunst im Mittelalter durch den
äußeren Anlaß der Barbareneinfälle genügend motiviert zu haben glaubt, sucht
Winckelmann den Prozeß von innen heraus durch den Begriff des Alterns zu er-
klären.

Und doch hat keiner die Schranken, die ihn bei aller Weite der künstlerischen
Anschauung drückten, stärker empfunden als — Winckelmann selbst. Die Un-
möglichkeit, aus den Trümmern einer längst vergangenen Kunst eine Welt voll
Leben, Schönheit und tiefer Wahrheit hervorzurufen, war zwar vor der unvergleich-
lichen intuitiven Begabung seines Genies wie die Dämmerung vor der Sonne dahin-
geschwunden ; aber der spärliche Stoff, der Winckelmann zu Gebote stand, erlaubte
doch nicht die weite Überschau über die Gesamtwelt der bildenden Kunst, die
einer späteren Zeit zu Gebote stand. Die Erschließung der klassischen grie-
chischen Kunst, deren Schätze erst durch Lord Elgin bekannt wurden, die Neu-
belebung der mittelalterlichen niederländisch-deutschen Kunst durch die Roman-
tiker, endlich die zeitweilige Zentralisation der europäischen Kunstschätze in Paris
hat eine ungeheure Erweiterung des kunstgeschichtlichen Horizontes zur Folge
gehabt.

Der nächste und wichtigste Ertrag dieser Umwälzungen ist mit dem Namen
Karl Schnaases eng verbunden, wie sich denn überhaupt seine Persönlichkeit ebenso-
wenig aus dem Zeitalter Hegels und der Romantik herauslösen läßt, wie die Er-
scheinung Winckehnanns aus der Epoche Herders und Goethes. Beide haben in
enger Fühlung mit den Tendenzen ihres Zeitalters gelebt und gewirkt. Demgemäß
tritt bei Schnaase das allgemein-menschliche, kulturgeschichtliche Element, wenn
es auch nicht ganz verschwindet, doch stark hinter dem nationalen zurück. Der
Volksgeist, »diese lebendige Einheit, die, obwohl dunkel in ihren Ursprüngen
und in stetem Fluß erscheinend', doch auch dem künstlerischen Verhalten eine
innere Gesetzlichkeit gibt,« ist von Schnaase zuerst in kunstgeschichtlicher Hinsicht
systematisch verwertet worden. Zu diesem nationalen Moment, das sich zwar
mehr nur der »Ahnung« erschließt, aber, wie Schnaase charakteristisch bemerkt,
dadurch nur um so gewisser ist, kommt noch ein zweites Moment durch Schnaase
in die Kunstforschung hinein, das Winckelmann kaum beachtet hat. Es ist das
religiöse Moment, »das nun mit voller erlebter Kraft, dem nationalen fast gleich-
wertig, in die Reihe der auch für die künstlerische Produktion bestimmenden
Mächte eintritt.« Und auch darin spürt man den Einfluß der Zeit, wenn Schnaase
den Hauptakzent von der körperhaften Plastik, mit der sich Winckelmann fast aus-
schließlich beschäftigt hatte, in das Gebiet der Malerei verlegt und dadurch den
ungreifbaren Mächten, wie Stimmung, Farbe, Licht, zu einer so noch nicht ge-
kannten Bedeutung und Wertschätzung verhilft. Endlich empfängt die Kunst-
geschichte auch in Hinsicht auf ihre Erkenntnisideale durch Schnaase neue Per-
spektiven. Es geht über Winckelmann entschieden hinaus, wenn Schnaase seine
Bewertung der Kunst als Weltanschauungsausdruck dahin bestimmt, »daß sie das
gewisseste Bewußtsein der Völker sei, ihres verkörpertes Urteil über den Wert der
Dinge«. »Was im Leben als geistig anerkannt ist, gestaltet sich in ihr.«
 
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