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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Stern, Lucie: Wilhelm Meisters Lehrjahre und Jean Pauls Titan
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0042

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36 LUCIE STERN.

denden Menschen und seinen Weg zur Tugend ankam, während es
sich bei dem seelisch reicheren Albano um Auswirkung seiner sämt-
lichen Kräfte, um Tätigkeit überhaupt und dann um den bestimmten
Beruf: den des Fürsten handelt. Und zweitens hat der Begriff »Bil-
dung« für Goethe einen andern Sinn als für Jean Paul: Für Goethe
bedeutet Bildung die Auseinandersetzung des Ichs mit der Umwelt und
mit seinen eigenen, einander widerstrebenden Kräften. Wilhelm erstrebt,
seine Umwelt zu erkennen und aus dieser Erkenntnis heraus als or-
ganisches Glied in diese Umwelt hineinzuwachsen. Albano dagegen
steht in einem rein seelischen Konflikt; ihm geht es um die gleich-
mäßige Ausbildung und Harmonisierung seiner Kräfte. Als der Lektor
Augusti seinen Zögling Albano zum ersten Male sieht, liest er »durch
langes Anschauen auf seinem Gesichte .. . was sich widersprach:
Kälte — Wärme — Unschuld und Sanftmut — am leichtesten Trotz
und Kraft«. Schoppe erwidert ihm darauf: »Ihm selber mag es noch
schwerer werden, einen solchen Kongreß kriegführender Mächte in
sich zu einem Friedenskongreß zusammenzuzwingen>).« Was seine
Einfügung in die Umwelt betrifft, so wird Albano eher ein »Organ
in dem Ganzen des Alliebenden« 2), wie Jacobi einmal Sillys Verhält-
nis zum Leben ausdrückt, als daß er ein Glied in der menschlichen
Gesellschaft würde, wie Wilhelm Meister es tatsächlich wird. Wie
bereits die Titel sagen, handelt es sich in den »Lehrjahren« um ein Pro-
blem der Lebensführung, im Titan um eine besondere menschliche
Seins-Art. Im Wilhelm Meister ist die Außenwelt dem Menschen
gleichgeordnet, Subjekt und objektive Werte stehen in beständiger
Wechselwirkung; alles, was Wilhelm erlebt, bildet ihn. Dagegen ist
von einem von außen kommenden wirklich umformenden Einfluß bei
Albano nur in den Knabenjahren, in denen ihm bestimmte Bildungs-
elemente auf besondere Weise vermittelt werden, die Rede; sobald
er seiner Seele bewußt ist, geht von ihr alle bildende Kraft aus. Das
feine Gefühl des alten Gleim trifft das Richtige, wenn er, nachdem er
den Titan zu lesen angefangen, am Q.Juni 1800 an Jean Paul schreibt:
»So viel seh' ich, Ihr Albano erzieht sich selbst, oder Gott erzieht ihn« 3).
Bei Goethe ist »die Welt der eigentliche Gegenstand, und der Held
ist mehr das Objekt, an dem die bildende Wirkung der Welt aufge-
zeigt wird«1)- Diese Stellung des Menschen zur Welt bringt not-
wendig mit sich eine gewisse Passivität des Helden, die Jean Paul zu
heftigem Widerspruch reizt. Albano ist — schon in den Studien-

') Hempelsche Ausgabe 24.

2) Allwill 53.

3) Denkw. HI, 57.

•) Oundolf, Goethe 514.
 
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