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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Heft 1
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Wulff, Oskar: Das Problem der Form in neuer Beleuchtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0103

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BEMERKUNGEN. 97

Solche entsteht vielmehr sowohl in den zweckfreien Künsten der Malerei und Plastik
wie in den Zweckkünsten aus der angeborenen Anlage zu persönlichem künstleri-
schem Ausdruck, die sich in jeder Art Lehrgang durchsetzt, aber wo sie fehlt, so
wenig wie die dichterische Begabung anerzogen werden kann. Erkennbar wird sie,
wie Bosselt treffend feststellt, schon in der freien Betätigung der Kinder im Zeichnen
und Formen, die in der ganzen Streitfrage noch von keinem der Sachverständigen
berücksichtigt worden war, obgleich schon Kerschensteiner in den Kinderzeichnungen
die verschiedenen Begabungsrichtungen hatte sondern können, wie sie auch der Ver-
fasser unterscheidet: die starke Phantasiebegabung von der reinen Gedächtnisbegabung
und von der Fähigkeit treffsicherer Auffassung des Naturvorbildes sowie anderseits
die rein ornamentale Begabung. Die höhere Kunstbegabung aber verrät sich bei jeder
Richtung durch die Frische und Unmittelbarkeit des persönlichen Ausdrucks. Dieselbe
Freiheit, sich aussprechen zu können, gilt es nun auch für die Künstlererziehung
herbeizuführen. Bosselt verwirft daher ihre bisherige Zweiteilung nach Kunstgewerbe-
schulen und Akademien, von denen die ersteren dem Zögling eine nur durch ein
Paar theoretische Lehrfächer erweiterte handwerklich technische Ausbildung bieten
Und ihn erst zuletzt zum freien Entwerfen kommen lassen, während die Akademien
ihn ohne jede technische Vorbildung auf dem Wege des Naturstudiums in Zeichnung,
Farbe und Form zur Malerei oder Plastik heranbilden und schließlich sein selb-
ständiges Schaffen auch in den Meisterateliers nicht genügend zu freier Entfaltung
bringen. Statt dessen fordert er die Errichtung einer künstlerischen Einheitsschule,
in der schon auf der Unterstufe jeder Begabungsrichtung der weiteste Spielraum zu
erfinderischer Betätigung geboten sein soll, ergänzt durch eine gewisse Anzahl von
Lehrstunden im Freihandzeichnen, Akt und Theorie. Von dieser gemeinsamen Vor-
schule sollen sich Fachklassen (auch für Architektur) und Werkstätten ohne allzu
strenge Verteilung der Lernenden abzweigen, in denen sich nicht nur die für die
angewandte Kunst Begabten, sondern auch die der zweckfreien höheren Kunst zu-
strebenden die ihrem Bedürfnis entsprechende technische Schulung aneignen können,
die letzteren ohne dem Zwange einer mehrjährigen rein technischen Ausbildung
Unterworfen zu sein. Von den ersteren aber würden diejenigen, die ohne eigene
stärkere Erfindungsgabe doch die Fähigkeit erwerben, vorgeschriebene Aufgaben in
gegebene Formen ansprechend auszugestalten, die für die angewandte Kunst er-
forderlichen Hilfskräfte abgeben. Ähnliche Vorschläge waren schon in der Umfrage
von 1917 von mehreren Künstlern, wie H. Olde, Bantzer, A. Kampf und von einzelnen
Kunstgewerblern, vor allem R. Meyer und B. Paul aufgestellt worden. Die Bosselt-
schen zielen auf möglichst weitgehende Befreiung der schöpferischen Kunstbegabuug
von der Beeinflussung durch das trockene Naturstudium und der Lehrer ab. Als
Theoretiker möchte ich zur Erziehung und Bereicherung ihrer freien Gestaltungs-
kraft einen ergänzenden Lehrgang der angewandten Ästhetik der bildenden Künste
an der Hand kunstgeschichtlicher Betrachtung, aber auch kunstphilosophischer Frage-
stellung befürworten.

Wie förderlich es für den Künstler ist, sich zu bewußter Klarheit über sein
Schaffen durchzuringen, erhellt aus den dem Buche in reicher Auswahl eingefügten
Abbildungen der eigenen Kunstschöpfungen des Verfassers. Daß bei jeder neuen
Schöpfung die Selbstbesinnung auf die eigene künstlerische Erfahrung dem Künstler
nützt, spricht er im Nachwort als seine Überzeugung aus, und daß auch die Ver-
tiefung in fremde Gedankengänge über die Probleme der Kunst ihm wenigstens zur
Bestärkung in seinem dunklen Drange dienen kann, aus dem immer wieder etwas
Neues geboren wird. Daß es darum ewig gültige Gesetze der Kunst nicht gebe,
Vvi'"d freilich der Forscher dem Künstler kaum zugestehen können, wohl aber daß

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XVI. 7
 
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