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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0129

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BESPRECHUNGEN. 123

Standes abzulesen ist. Neben dem Unterricht im Entwerfen — dessen planmäßigen
Fortgang Cornelius sehr eingehend schildert — beginnt sogleich die Ausbildung
des Vorstellungsbesitzes mittels der Übungen im Beobachten des bewegten Modells
und im Zeichnen auf Grund der so gewonnenen Vorstellungen. Für alle Schüler
bleibt der Unterricht im architektonischen und kunstgewerblichen Entwerfen obliga-
torisch. Besonderer Pflege erfreut sich das Aktzeichnen aus der Vorstellung. Die
Anregung hierzu geht auf Gustav Britsch zurück. Während der Vorführung des
Modells darf keinerlei Zeichenmaterial in den Händen der Schüler sein; es wird
ausdrücklich erwähnt, daß jedes direkte Zeichnen nach dem Modell gerade das ver-
hindern würde, was hier gewonnen werden soll. Das Modell wird aus der Nähe
betrachtet und von den verschiedensten Richtungen her; die Wölbungsverhältnisse
und Zusammenhänge der Formen sollen eingehend untersucht und in ihrer Gesetz-
mäßigkeit erfaßt werden. Jede Bewegung wird, zum Zweck der Beobachtung durch
die Schüler, vom Modell längere Zeit langsam, aber kontinuierlich, d. h. ohne Ruhe-
Pausen in den Endlagen, wiederholt; bei den ersten vorgeführten Bewegungen
werden die Schüler auf die Unterschiede verschiedener Phasen der Bewegung auf-
merksam gemacht, später bleibt ihnen das Aufsuchen solcher Unterschiede selbst
überlassen. Ein nebenhingestelltes Skelett dient den Schülern zur Orientierung über
die entsprechenden Vorgänge im Knochengerüst. Nach der Vorführung des Modells
wird dieses den Blicken entzogen und nunmehr müssen die Schüler sich darüber
Rechenschaft geben, wieviel sie gegenüber dem vorhergehenden Zustand an Vor-
stellungsbesitz gewonnen haben: was nur durch Zeichnen (eventuell Modellieren
oder sonstige Verwirklichung der Vorstellungen) erreicht wird. In den folgen-
den Stunden werden sukzessive die verschiedenen Bewegungen wieder und wieder
vorgeführt und studiert, und jedesmal nachträglich durch Zeichnung der Fortschritt
der Vorstellungsentwicklung kontrolliert. Eine Reihe sehr interessanter Abbildungen
zeigen den Entwicklungsgang einer Schülerin während der ersten sieben Wochen
des Vorstellungszeichnens.

Zu Anfang dieses Jahrhunderts als Obrist die Schule leitete — deren Unterricht
letzt Cornelius umgestaltete — vereinte bereits ein theoretischer Abend wöchentlich
Lehrer und Schüler. Obrist hielt einen Vortrag, und daran knüpfte lebhafte Aus-
sprache. Aus meiner Studentenzeit erinnere ich mich deutlich dieser angeregten
Abende. Schon damals bewegten sich die Anschauungen von Obrist auf den
Bahnen, die Cornelius nun weiter verfolgte. Ich kann aber diese Entwicklung nicht
restlos als Fortschritt begrüßen. Die Grundanschauungen von Cornelius halte ich
'ür einseitig, und nicht nur ich; Volkelt, Müller-Freienfels, Hoeber und manche
andere haben polemisch zu ihnen Stellung genommen; ich selbst befasse mich mit
•hnen im zweiten Bande meiner »Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft«:,
"ie praktische Schulverwertung scheint mir auf einen sehr intellektualisierten Aka-
demismus hinauszulaufen, auf eine Art Kunstmathematik nach bestimmten Regeln.
Das »Fehlerlose« verbürgt noch in keiner Weise Kunsteignung, aber es täuscht
leicht über die eigentlichen Kunstprobleme hinweg. Rationalismus und Organisation
sind hier nur innerhalb sehr enger Grenzen möglich. Dabei unterschätze ich nicht
das pädagogische Talent von Cornelius, seine reiche Erfahrung, die wohltuende
Klarheit seines Denkens, die Fülle von Richtigem und Wertvollem in seinen Aus-
führungen. Aber eine Kunstpädagogik stelle ich mir doch anders vor: weniger
dogmatisch, vielleicht gebundener im Handwerklichen, dafür aber freier und lebens-
erfüllter überall dort, wo Seele und Gefühl sprechen. Die noch so charakteristische
Vorstellung bleibt arm und leer, wenn sie nichts als Vorstellung ist.

Rostock. ,- ., ,T...

Emil Utitz.
 
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