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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Koehler-Deditius, Annemarie: Mignon
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0152

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146 ANNEMARIE KOEHLER-DEDITIUS.

einen einheitlichen Eindruck machen kann, ist merkwürdig; man sollte
meinen, daß die Schranke der Individualität zwischen den beiden Künst-
lern das Entstehen einer letzten und tiefsten Einheit für den Hörer ver-
hindern müßte. Könnte man sich dies aber beim Verhältnis des Opern-
dichters zum Komponisten so erklären, daß hier irgendein Zueinander-
und Füreinanderschaffen bewußt vorliegt, so wird die Tatsache einer
künstlerischen Wirkung, ja überhaupt nur der ästhetischen Möglichkeit
und Erträglichkeit fast rätselhaft, wenn ein in sich als Kunstwerk ab-
geschlossenes Gedicht komponiert wird, da sein Schöpfer die Mitwirkung
der Musik nicht in Betracht zog oder nicht für nötig hielt. Hier ist auch
Wagners Vergleich von dem zeugenden Samen der dichterischen Ab-
sicht als Stoff, aus dem die Musik das vollendete Kunstwerk gebiert,
der einen idealen Fall für das musikalische Drama bezeichnen konnte,
unangebracht. Denn wenn man von der unbezweifelbaren Tatsache der
Mehrheit der wirkenden Künste ausgeht, die nach Stoff und Darstellungs-
mitteln verschieden sind, so ist es nicht zu verstehen, wie einem in
sich geschlossenen Kunstwerk durch eine von ihm aus gesehen wesens-
fremde Zutat nicht nur kein Schaden erwächst, sondern wie die Er-
fahrung zeigt, oftmals eine Bereicherung zuteil wird.

Aber ist hier nicht der Standpunkt falsch? Ist es nicht gerade die
Aufgabe der theoretischen Besinnung über Kunstwerke, sich so einzu-
stellen, daß die Wirklichkeit als begründet erfaßt werden kann? Diese
Begründung scheint nun bei der Verbindung von Poesie und Musik
ganz nahe zu liegen. Von den verschiedensten ästhetischen Einstellungen
aus wird man zu der Erkenntnis einer besonders engen, wesenhaften
Verwandtschaft der beiden Künste gedrängt. Lessing1) z.B. führte die
Lehre von den ästhetischen Zeichen zu der engen Zusammenstellung
von Poesie und Musik als Künsten, die mit aufeinanderfolgenden hör-
baren Zeichen wirken, und wenn »beiderlei Zeichen nicht allein für
einerlei Sinn sind, sondern auch von demselben Organo zu gleicher
Zeit gefaßt und hervorgebracht werden können«, so scheint ihm »die
Natur selbst« diese vollkommene Art der Verbindung »nicht sowohl
zur Verbindung, als vielmehr zu einer und derselben Kunst« bestimmt
zu haben, und »es hat auch wirklich eine Zeit gegeben, wo sie beide
zusammen eine Kunst ausmachten«. Mit noch größerem Nachdruck
wird die Verwandtschaft, ja ursprüngliche Identität der beiden Künste
von Herder betont. Für ihn geben schon leblose Gegenstände, wenn
sie berührt oder geschlagen werden, im tönenden Schall ihr Inneres
kund, die menschliche Lautäußerung, sei sie nun artikuliert oder nicht,

') G.E.Lessings sämtliche Schriften, herausg. von Lachmann und Muncker Bd. XIV,
431.
 
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