Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

DOI Heft:
Heft 2
DOI Artikel:
Marcus, Hugo: Landschaft und Seele
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0208

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
202 HUGO MARCUS.

Sehnsucht ist ihrem Wesen nach also ewige Aktivität. Einem Drang,
der ewig und beständig weiter will, kann aber nur eine solche Ebene
genügen, die unendliche Weiterbewegung erlaubt. Und nun ist es
das Eigentümliche der Landschaft, daß sie im Kranz um die runde
Erde herumgewunden ist. Der Kranz, der Kreis aber birgt als seinen
letzten Sinn und Tiefsinn die Tatsache, daß er, beständig in sich
zurückkehrend, eine Unendlichkeit in der Endlichkeit darbietet.
Daß die Erde Kugel ist, daß die Landschaft kreisförmig und deshalb
unendlich um die Erde herumgreift, entspricht also mit prästabilierter
Harmonie dem stärksten Landschaftsgefühl, ja dem stärksten Gefühl
der Menschenbrust überhaupt, das Sehnsucht ist, Sehnsucht, die gleich-
falls das Unendlichkeitsmoment in sich hat und in die Endlich-
keit einbringt. Durch die Landschaft hängt die Sehnsucht und letzter-
dings die Seele mit der Kugelgestalt der Erde zusammen.

2.

Als Relativismus bezeichnen wir die Erscheinung, daß unserem
Denken dieselben Dinge je nach dem Standpunkt, den wir zu ihnen
einnehmen, je nach der Stelle, auf welche wir treten, ein ganz ver-
schiedenes Gesicht entgegenhalten. Was unterm einen Gesichtspunkt
verboten ist, ist unterm anderen geboten, was für ein Ziel das rechte
Mittel ist, ist für das andere vom Übel. Was aus der einen Einstel-
lung heraus beweisend ist, verliert seine Beweiskraft aus einer anderen
Voraussetzung. Statt des einen Gesichts, das wir suchen, bekommt
jede Sache auf diese Weise unzählige gleich zutreffende und gleich
wenig zutreffende Gesichter. Wir sind, sozusagen, ärmer und reicher
als uns lieb ist. Ärmer um das Eine, reicher um die Fülle.

Was aber bewegt uns in der Landschaft beständig mit Staunen
und Überraschung? Es ist das Erlebnis dessen, wie verschieden ein
und derselbe landschaftliche Gegenstand aussehen kann. Denn je
nach unserem Standpunkt kehrt uns derselbe Gegenstand jeweils eine
andere Stelle zu und je nach den Vordergründen, welche gleichfalls
unser Standpunkt entscheidet, wendet uns jeder Landschaftsgegenstand
einen anderen Ausschnitt von sich zu. Schon eine bloße Drehung
um die eigene Achse genügt, uns das zu lehren. Denn derselbe
Weg wandelt seinen ganzen Charakter, je nachdem wir ihn im Hin
oder im Zurück abschreiten. Alle Dinge kehren uns ja im Zurück
ihre andere Seite zu und neue, verwandelte Zusammenhänge und Aus-
schnitte. So aber kehrt uns auch jeder Berg eine andere Seite zu, oft
schon, wenn wir ihn unter einer ganz geringen Drehung betrachten,
etwa von Osten nach Südosten umgestellt. Zeigte er uns von Osten
etwa jenen Ausschnitt, der eine Nase bildet, so lassen schon von
 
Annotationen