Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

DOI Heft:
Heft 3
DOI Artikel:
Mies, Paul: Goethes Harfenspielergesang "Wer sich der Einsamkeit ergibt" in den Kompositionen Schuberts, Schumanns und H. Wolfs : eine vergleichende Analyse
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0390

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
384 BEMERKUNGEN.

Ich betrachte zunächst die Rhythmik der Kompositionen im allgemeinen. Das Gedicht
läßt sich in vier Strophen jambisch skandieren, so daß sich die Strophen 1, 3 und 2, 4
entsprechen. In den beiden ersten sind die Verse 1 und 3 vierfüßig, 2 und 4 drei-
füßig, in den Strophen 2, 4 sind alle Verse dreifüßig. Ausnahmen enthält der
3. Vers von Strophe 2 mit nur zwei Füßen und die beiden ersten Verse der Strophe 3
mit je einem Daktylus. Diese Freiheiten zeigen, daß überhaupt das Hineinpressen
in das jambische Maß verfehlt ist; wir haben ein dem Sinnakzent nach ganz freies
Metrum vor uns. Das Taktmetrum der Musik ist ursprünglich bei einmal gewähl-
tem Takt ein festes, ähnlich dem Gewicht der skandierten Jamben. Zelters Kompo-
sition zeigt diesen Zusammenhang am deutlichsten. Zwei Jamben entspricht durch-
weg ein auftaktiger Viervierteltakt, also " ~ I die dreifüßigen Verse werden
durch Dehnung auf zwei Takte gebracht, wie die vierfüßigen Verse sie von selbst
haben. So entsteht die achttaktige Melodie und die quadratische Melodieform, die
ja ein Wahrzeichen des Liedes des 18. Jahrhunderts ist').

Gehen wir die drei zu behandelnden Kompositionen nach diesem Gesichts-
punkte durch, so zeigt sich, daß der Entstehungszeit nach dem Sinnakzent auch in
der Vertonung mehr und mehr sein Recht eingeräumt wird. Diesen schon häufig
ausgesprochenen Satz2) werde ich jetzt an einigen besonders interessanten Stelle11
ausführen. Die des öfteren am Versanfang stehenden Interjektionen (Strophe i
Vers 2 »Ach«, Strophe 2 Vers 1 »Ja«, Strophe 4 Vers 2 »Ach«) stehen in der kurzen
Silbe des Jambus, dem Sinne und auch der phonetischen Sprechweise nach sind sie
aber jedenfalls betont. Das fühlte schon Zelter, wenigstens die beiden letzten dehnte
er um ihre doppelte Länge, indem er die Pause des vorhergehenden Versfußes hin-
zunahm; dadurch kam die Interjektion auf einen betonten Taktteil und erhielt zu-
gleich eine ihrer Wichtigkeit entsprechende Länge.

■ : %M=^-iz

EMSr

Pein. Ja Pein. Ja

Die erste Silbe des 2. Verses der 1. Strophe konnte er auf diese Weise nicht
dehnen, daher griff er zu einem musikalischen Hilfsmittel, er gab ihr in det
Phrase die höchste Tonhöhe und glich so fehlende Länge durch hervorstechende
Tonhöhe aus •1). Schubert verfährt in seinen beiden Liedern mit den Interjektionen
wesentlich unbekümmerter wie Zelter. Schumann wendet, wohl um den Rhythmus
freier gestalten zu können, als einziger den Dreivierteltakt an; die Jamben und
Daktylen des Gedichtes lassen sich dadurch wesentlich mannigfacher gestalten. Die
Ausrufe der 2. und 4. Strophe erscheinen bei ihm auf das erste, also betonte Viertel
des Taktes; sie erhalten aber keine ausgezeichnete Länge. Das »Ach« der 1. Strophe,
die schmerzlichste Interjektion von den dreien, hob Schumann stark hervor, einmal
durch längere Dauer ('/.» + '/8)> dann aber durch einen besonderen Kunstgriff, indem
er sie auf das dritte, unbetonte Viertel anfangen und über den Taktstrich in den
betonten Taktteil halten läßt. Der Beginn einer neuen Phrase mit einer über den
Auftakt verlängerten Note, der Ausfall der Betonung an erwarteter Stelle gibt eine
hervorstechende Ausdrucksform, die gegenüber der Einführung der betonten Silbe

') H. Rietsch, die Deutsche Liedweise, Seite 49.
s) Rietsch a. a. O. Seite 86.
8) Über derartige Möglichheiten siehe Rietsch a. a. O. Seite 143 ff., Minor, Neu-
hochdeutsche Metrik II. Seite 115 f.
 
Annotationen