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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Heft 3
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Mies, Paul: Goethes Harfenspielergesang "Wer sich der Einsamkeit ergibt" in den Kompositionen Schuberts, Schumanns und H. Wolfs : eine vergleichende Analyse
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0396

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300 BEMERKUNGEN.

im Text nur angedeuteten Stimmungsumschlag kann sie in wenigen Akkorden deutlich
kennzeichnen.

Die Einzelbesprechung ist beendet. Zusammenfassen läßt sich nach zwei
Richtungen: einmal die Individualität der drei Komponisten betreffend, dann den An-
schluß der Kompositionen an den Text. In bezug auf das erste läßt sich fest-
stellen, daß Schubert, sich der Hauptstimmung des Textes überlassend, seine Musik
verfaßte, dabei aber wesentlich noch musikalischen Gesetzen folgend, also z. B. vor
Textwiederholungen nicht zurückschreckte. Daher erhielt er ein musikalisch ge-
schlossenes Werk, das allerdings nicht allen Feinheiten und Stimmungen des Textes
nachgeht. Schumann versucht das letztere, dafür zerfällt aber seine Komposition
in mehrere, zusammenhanglose Episoden, die ein einheitliches Band oder eine zu-
sammenhaltende Krönung vermissen lassen. Wolf gelang die Vermählung beider
Absichten. Musikalische Abrundung bewirkt die Wiederholung des Anfangsmotivs
als Zwischensatz und Schlußteil, und daß er jedem Gedanken, auch jeder formalen
Anregung des Textes folgt, habe ich fortwährend darlegen können. In seiner Kom-
position haben wir also eine vollendete Wiedergabe des Goetheschen Gedichtes
vor uns. Vom rein musikalischen Standpunkte aus könnte man vielleicht eine etwas
geschlossenere Melodie der Singstimme wünschen, die allerdings durch die schöne
Begleitungsmotivkette in etwas ersetzt wird. Auch die Erfüllung dieser letzten Forde-
rung ist noch möglich, eine Komposition der behandelten Harfnerballade in diesem
Sinne gibt es wohl nicht; dagegen zeigen Lieder wie Wolfs Anakreons Grab,
Brahms »Nicht mehr zu dir zu gehn« (Op. 32, II) und Schuberts zu wenig gekanntes
»An die Entfernte« (Ed. Peters Bd. VII S. 54') die Möglichkeit der Verbindung
von musikalischer Form, minutiösem Eingehen auf die Absichten des Textes und
seelenvollster Melodie der Singstimme.

Ein Vergleich der anderen Gesänge aus Wilhelm Meister von den drei Kompo-
nisten ist ebenfalls von Interesse 2). Dabei ergibt sich, daß bei der Wertbestimmung'
durchaus nicht immer dieselbe Reihenfolge eintritt, daß manchmal die überquellende,
ursprüngliche Musik Schuberts Wolfs Grübeleien weit hinter sich läßt, ja daß hin
und wieder Schumanns Kompositionen trotz ihrer vielfach gekünstelten Deklamation
die tiefsten Ausschöpfungen des Textes sind. Auf eine Wertbestimmung ohne ein-
gehende Analyse verzichte ich.

Bauer3) urteilt über die Kompositionen von »Wer sich der Einsamkeit ergibt«:
»Die Komposition von Wolf ist die das Gedicht am tiefsten wiedergebende*, ohne
eine ausreichende Begründung für dies Urteil zu geben, dem ich an sich zustimme.
Friedländer') erklärt, ganz ohne Grundangabe, Schuberts Komposition für die beste.
Derartige Urteile bedürfen aber einer Begründung. Und wesentlich erscheint mir,
daß es in diesem Beispiel an Hand ausreichender, kaum bestreitbarer Sätze gelungen
ist, zu entscheiden, welche Komposition sich — unter Innehaltung der musikalischen
Gesetzmäßigkeiten — am meisten dem Text anschließt und welche daher als die
wertvollste anzusprechen ist. Steht erst einmal die Lehre von den musikalischen
Ausdrucksformen und ihren Beziehungen zu Affekten, Empfindungen usf. zur Ver-
fügung und damit eine ausgebaute Hermeneutik, dann werden sich derartige Wert-
urteile noch leichter und sicherer fällen lassen. Es ist aber von Wichtigkeit, derartige
Werturteile einwandfrei fällen zu können, um ein Urteil auf objektiver Grundlage,
möglichst frei von subjektiven Beeinflussungen durch den Geschmack, zu ermöglichen.

') Bauer a. a. O. S. 238. a) Siehe z. B. Bauer a. a. O. S. 244 f. 3) a. a. O. S. 244.
*) M. Friedländer, Goethes Gedichte in der Musik, Goethe-Jahrbuch XVII, 1896, S. 190.
 
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