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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Heft 3
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Wohlfarth, Paul: Über den ästhetischen Genuß
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0398

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392 BEMERKUNGEN.

erscheint in dieser Richtung die Eignung des sachlich Gleichgültigen bemerkens-
wert. Wir gehen hundertmal an einem Baume vorüber, ohne ihn zu beachten, weil
er durch nichts die Aufmerksamkeit an sich zu ziehen vermag. Aber an einem
Tage zittert ein Hauch über seinem Blätterdach oder zeichnen sich seine nackten
Äste scharf und kraus vom Abendhimmel ab, daß uns der Anblick, als käme es
wie eine Gnade über uns, im Tiefsten ergreift, irgend ein allbewunderter Sonnen-
aufgang im Hochgebirge oder am Meeresufer uns dagegen in der Erinnerung abge-
griffen und schal erscheint.

Dies ist der Reichtum der ästhetischen Welt: daß der ästhetische Genuß, los'
gelöst vom Gegenständlichen, uns wie eine Gnade überkommt, den Schaffenden
wie den Genießenden; bei allem Rausch, der uns ergreift, spüren wir doch irgend-
wie die Ehrfurcht vor etwas Jenseitigem, das sich freilich nur schwer anschaulich
machen läßt. Beim Schaffenden ist es vielleicht noch leichter verständlich. Er hat,
hinabtauchend in den rastlosen Strom seines Innern, mit raschem Griff oder in
heißem Mühen ein Neues, noch nie Dagewesenes gebildet, das eben noch seinem
Ich zugehörte und nun ein eigenes Sein hat. Das urewige Geheimnis der Geburt
wird hier doch noch weiter gesteigert, da es dieser eine Geist allein ist, der das
Neue schafft. So hören wir von manchen Künstlern — vielen wird eine seelische
Keuschheit den Mund verschließen —, daß etwas in ihnen geschaffen hat, nicht sie
selbst. Ja jeder, der einmal einige harmlose Verse geschmiedet hat, nimmt er die
vollendeten zur Hand, wird staunend ein Fremdes zu fühlen glauben, das hier m»
am Werke gewesen ist. Weil wir hier nicht weiter dringen können, kein Warum
und Woher Antwort erhält, wähnen wir den erschütternden Hauch der Gnade zu
spüren. Es wird viele Künstler geben, die diese Deutung ablehnen, das werden
aber gerade solche sein, die die Ursprünglichkeit und Frische ihres Schaffens durch
Grübeleien überhaupt nicht berührt wissen wollen. Von den Aussprüchen derer,
die zugleich Künstler und tiefe Denker waren, sei hier nur der eine genannt:
Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.
Daß auch den Genießenden ein Gefühl der Gnade überkommt, wurde im obigen
Beispiel angedeutet. Nur äußerlich scheint hier der Grund ein anderer zu sein. In
jenem Beispiel liegt er auf der Hand. Es ist das Unerhörte, daß ein altgewohnter
Anblick, der mir lange nichts zu sagen vermochte, wie mit einem Schlage ein ganz
persönliches Verhältnis gerade zu mir gewonnen hat, denn die andern sehe ic'1
an jenem Baum noch immer gleichgültig vorüberhasten. Daß der Baum für mich
plötzlich Leben gewinnt, ohne daß sich äußerlich irgend etwas geändert hat, das
wirkt wie eine Gnade auf mich. Dieses ewig Neue ist nun aber mit jedem ästhe-
tischen Genuß verbunden, auch wo er von hundertmal genossenen Gegenständen
herrührt. So oft mich ein Kunstwerk, eine Landschaft entzückt, die mir altbekannt
sind, gewinnen sie doch immer wieder ein neues Verhältnis zu mir, erscheinen sie
mir wieder als neu. Man drückt diesen Gedanken beim Kunstwerk häufig so aus,
daß man es erst bei wiederholtem Genuß richtig verstehe. Es handelt sich hier
aber überhaupt um kein Verstehen, denn dann wäre das endgültige und abge-
schlossene Verstehen das Ende jedes Kunstgenusses, sondern um ein immer Neues,
das uns wie aus einem lebendigen Urgründe hervorquellend erfaßt. In dem Augen-
blick, wo es uns nichts Neues mehr ist, hört der ästhetische Genuß auf. Ein Buch,
das mich zum zweiten Male nicht mehr fesselt, mir in diesem Sinne nicht mehr
neu erscheint, mag es mich das erste Mal noch so sehr entzückt haben, komm*
daher ästhetisch für mich nicht mehr in Frage, eine Erfahrung, die wir so oft b*1
künstlerisch untergeordneten Werken machen. Demgegenüber denke man insbe-
 
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