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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Heft 3
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Wohlfarth, Paul: Über den ästhetischen Genuß
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0404

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398 BEMERKUNGEN.

nuß das Schöpferische in ihm steigert, führt zu dem Ergebnis, daß der Genuß damit
selbst ein höherer wird. Nicht weil wir mehr von den gedanklichen Problemen
des Kunstwerks, seiner Technik, seiner Entstehung, dem Leben seines Schöpfers
wissen, werden wir mächtiger gepackt, sondern lediglich weil und insofern all dieses
an sich tote Wissen in uns die Funktion des Schöpferischen steigert. Wir gewinnen
gewisse Kunstwerke besonders lieb, bei denen wir, im eigentlichen und übertragenen
Sinne, glauben, zwischen den Zeilen zu lesen. Die Gewinnung aller objektiven
Erkenntnisse ist für den ästhetischen Genuß nur insoweit von Belang, als sie uns
befähigt, zwischen den Zeilen zu lesen. Daß diese Funktion des menschlichen
Geistes auch für den Naturgenuß von entscheidender Bedeutung ist, sei hier nur
angedeutet.

Mit der Deutung des ästhetischen Genusses als aktive Funktion des mensch-
lichen Geistes seien diese Betrachtungen abgeschlossen. Es bedarf nur noch der
Feststellung, daß wir in dieser Gemeinsamkeit des ästhetischen Genusses wie des
künstlerischen Schaffens die eigentliche Bedeutung der ästhetischen Welt zu er-
blicken haben. Denn wenn auch in der Welt der Wissenschaft und Moral, der
Religion und Praxis der menschliche Geist als funktionell nicht auszuschalten ist»
so doch nur in Verbindung mit oder im Hinblick auf eine bestimmte Ordnung der
realen Werte. Eine solche Ordnung scheint der Welt des Ästhetischen zu fehlen,
wobei wir hier nochmals die ästhetische Wissenschaft als Disziplin der Philosophie
ausscheiden. Gewiß, die Vergangenheit hat Künstler, denen keiner der heut
Schaffenden zu gleichen sich vermessen darf. Trotzdem genießen wir diese rnit
unverminderter Anteilnahme und Ergriffenheit, weil und insofern gerade sie uns zu
sagen wissen, was uns im tiefsten erschüttert. Schaffen und Genießen, sie beide
haben, jenseits aller realer Wertordnung, teil an jener seligen Sehnsucht, der die
Goetheworte Ausdruck und Gestalt verleihen:

Nicht mehr bleibest du umfangen

Von der Finsternis Beschattung,

Und dich reißet neu Verlangen

Auf zu höherer Begattung.
 
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