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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Heft 4
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Thomä, Walter: Kunstgeschichte und lebendige Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0512

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506 BEMERKUNGEN.

nicht zuletzt der Kunstgeschichte, welche die Formen der Vergangenheit immer
besser kennen lehrte. Es konnte nicht lange verborgen bleiben, daß sie an diesem
Verfall einen Anteil habe. Und so konnten schließlich namhafte Vertreter der Kunst-
geschichte selbst (Konrad Lange, Karl Neumann) sich zu der Behauptung versteigen:
wir kennen die Geschichte der Stile, und so kommt es, daß wir keinen Stil haben.
Und noch heute ertönt in Kreisen des Fortschritts (Muthesius und andere), sobald
es sich um Volkserziehung zur Kunst handelt, der Ruf nach dem Zeichenlehrer oder
Künstler; der Kunsthistoriker, heißt es, lehrt nicht sehen, geschweige schaffen; er
ist überflüssig, sogar schädlich. Somit steht die Kunstgeschichte als Angeklagte vor
den Schranken und hat sich gegen diese Schuldvorwürfe zu verteidigen.

Untersuchen wir zuerst: welche Ziele und Wege hat die Kunstgeschichte, und
sodann: was bietet sie dem Kunstfreund und dem Künstler.

Die Entwicklung der Kunst kann man wissenschaftlich nur bearbeiten, wenn
man zweierlei unterscheidet: die einzelnen Tatsachen, also namentlich die Einzel-
kunstwerke, gleichsam Raumgebilde, und die Aufeinanderfolge der Tatsachen in der
Zeit, das Nacheinander der Kunstwerke. Demnach hat die Kunstgeschichte, analog
jeder anderen Geschichte zwei voneinander zu trennende Aufgaben: die Analyse
des Einzelkunstwerkes und die Feststellung des Zusammenhangs in der Zeit. Wir
lösen aus der Kunstgeschichte zunächst eine selbständige Wissenschaft heraus,
welche nur analysiert, und nennen sie Kritik oder Charakteristik, sodann
erst betrachten wir die eigentlich historisch-chronologische Behandlung und nennen
sie pragmatische Kunstgeschichte. In jedem kunstgeschichtlichen Werke wird
man beides gemischt finden.

Die literarische Form der Kritik.

Wichtigster Elementargegenstand der Kunstgeschichte ist das einzelne Kunst-
werk, ein räumliches Gebilde, dessen Untersuchung nur darin bestehen kann, daß
man es in Elemente zerlegt, denen es seinen Bestand verdankt. Im Unterschied
vom Physiker, Chemiker, Politiker, Juristen interessieren den Kunsthistoriker diese
Elemente nur soweit, als sie Ausdrucksmittel sind. Es sind dies, um nur die
wichtigsten aufzuzählen, Kräfte, Massen, Flächen, Linien, Stoffe, Farben, Licht und
Schatten.

Ist das Kunstwerk ein Erzeugnis der Nutzkunst, so treten unter den Elementen
diejenigen stark hervor, welche wir als Zweckelemente oder Bedingungen
zu bezeichnen pflegen. So gehört zu den Ausdrucksmitteln eines Gebäudes der
Mensch, der es bewohnt oder betritt. Die menschlichen, gesellschaftlichen, sittlichen
Elemente, welche bei der Entstehung mitgewirkt haben, wirken auch beim fertigen
Kunstwerk jederzeit noch mit und gehören zu seiner ästhetischen Natur. Ein Wohn-
haus ohne Bewohner, eine Kirche ohne Kult sind nicht nur widersinnig nach ver-
nünftigen Erwägungen, sondern ihre Kunstwirkung ist unvollständig.

Die Untersuchung des Kunstwerkes beginnt also mit der einfachen Analyse,
welche eine rein physische, naturwissenschaftliche, gleichsam gefühllose ist. Die
sämtlichen Elemente, welche den Ausdruck bedingen, werden festgestellt, gemessen
und gewogen. Daran schließt sich zweitens eine ästhetische Untersuchung der
Elemente: auf ihre Eigenart, ihren Wert für den Ausdruck, ihre Störungen und
Mängel. Nach dem physischen Gewicht wird das Wertgewicht der Elemente fest-
gestellt. Es ist klar, daß dieser Teil der Analyse von der Subjektivität des Schreibers
stark mit abhängig ist; über den »wissenschaftlichen« Wert könnte man streiten;
doch kommt es ihr zugute, daß auch in anderen, nicht rein exakten Wissenschaften,
wie z. B. Staats- und Rechtslehre, die Subjektivität keineswegs ausgeschaltet ist.
 
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