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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Heft 4
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Thomä, Walter: Kunstgeschichte und lebendige Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0516

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510 BEMERKUNGEN.

räum für die Gemeinde mit dem Nebengedanken, daß Gott zwar unsichtbar und
allgegenwärtig, aber doch gleichsam hier gegenwärtig ist im Wort. Gott ist noch
immer der über menschliche Kleinheit Erhabene, aber die kindliche Frömmigkeit
genügt ihm, die Weltflucht verlangt er nicht. Danach ist der Kirchenbau ein Predigt-
raum, der den Blick zwar nach oben zieht, aber nicht mehr in der leidenschaftlichen
Weise des Mittelalters. Der Stil verlangt eine Mäßigung der aufstrebenden und
auflösenden Tendenz.

Wenn also die Religiosität der protestantischen Gegenwart nach einem Kirchen-
stil sucht, so muß sie den alten Kirchenstil variieren, und wie dies zu geschehen
hat, lehrt ihr die Stilgeschichte am Beispiele der Gotik. Denn die
Gotik enthält Tradition und Neuerung. Sie geht aus dem romanischen Stil hervor,
der selbst wieder im Altertum wurzelt; sie behält von ihm bei, was sie brauchen
kann (z. B. die immer noch erkennbare attische Basis der Säulen), und sie streift
ab, was sie nicht brauchen kann. Die Stilgeschichte ersetzt also heute nicht nur
die Tradition (diese knüpft meist nur an die letztvergangenen Stile an), sondern sie
lehrt auch ganz allein den Umbildungsprozeß der Stile kennen.

Kehren wir zurück zu der Anklage gegen die Kunstgeschichte, die Stilverwir-
rung des 19. Jahrhunderts verschuldet zu haben.

In Dresden baute Schinkel 1831 die Hauptwache am Schloß. Die Bauaufgabe
war, einen Unterkunftsraum zu schaffen für eine Abteilung Soldaten, die abgelöst
werden, für einen Wachmann, der auf und ab schreitet, für eine Anzahl Gewehr-
pyramiden. Schinkel wählte hierfür den griechischen Stil. Die Formen lieferte ihm
natürlich die Kunstgeschichte, die ja erst seit Winkelmann das Griechentum in ziem-
licher Reinheit kennen lehrte. Die Neuzeit empfindet den Widerspruch zwischen
Form und Gebrauch des Gebäudes und gibt der Kunstgeschichte die Schuld.

Die Kunstgeschichte antwortet: »Niemals habe ich gelehrt, daß zu einem Trupp
sächsischer Soldaten mit einer Anzahl Gewehrpyramiden ein griechischer Tempel
gehöre, sondern das gerade Gegenteil. Ich habe stets gelehrt, daß die Stil-
formen der Griechen aus den Bedingungen hervorgegangen sind, welche in der
griechischen Religiosität, oder in den griechischen Wohnsitten, in der nationalen
Kunstauffassung, im Klima, im Material usw. enthalten sind. Aus dieser Lehre folgt
von selbst, daß sich mit geänderten Bedingungen die Formen ändern müssen, daß
also wohl eine Herübernahme alter Elemente möglich ist, keinesfalls aber eine
grundsätzliche Treue gegen den alten Stil.«

Das Urteil ist nicht schwer zu finden. Die Kunstgeschichte ist etwas Ideales,
eine Göttin, eine Muse; etwas anderes aber als die Gottheit waren von
jeher ihre Priester. Sie machten aus der Kunstgeschichte eine Ge-
schichte der Formen, oder besser noch, ein Magazin für Formen, aus
denen man sich die vollendetsten heraussuchte. Der erste dieser Sünder war
Winkelmann; sein Werk war ursprünglich die Schaffung der Archäologie, aber er
ging weiter: er empfahl die griechischen Formen für die Kunst seiner Zeit. Das
zweite und erste reimt sich nicht zusammen; auch er kannte schon, wenn auch
weniger gut als wir, die Kausalzusammenhänge; sein Fehler war demnach ein
logischer, eine Inkonsequenz. Und nicht andres versuchten die Neugotiker der
evangelischen Kirche mit ihrer völlig geänderten Religiosität den Kathedralstil aufzu-
nötigen. Die Kunstgeschichte ist bis in die neueste Zeit hinein revisionsbedürftig
nach diesem Prinzip; erst wenn sie revidiert ist, ist sie neben dem Künstler der
Gegenwart berufen, Kunstverständnis zu lehren und zum Schaffen anzuregen.
 
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