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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Heft 3
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Baeumler, Alfred: Benedetto Croce und die Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0321

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BENEDETTO CROCE UND DIE ÄSTHETIK. 315

Anerkenntnis gewisser »Formen«, Klassifikationen und Typen. Eine
Reihe von schlechthin individuellen Punkten ist kein historischer Zu-
sammenhang. Die »genetische und konkrete Klassifikation«, das Ver-
ständnis der Geschichte bleibt letztlich abhängig von einem System.
Ohne Systematik müssen Kritik und Geschichte zerflattern. »Individuelle,
ursprüngliche, unübersetzbare, unklassifizierbare Intuitionen« entfliehen
n'cht nur scheinbar, wie Croce meint (51), sondern wirklich dem Ge-
danken. Die tiefe Vorstellung, daß Ästhetik und Geschichte untrenn-
bar miteinander verbunden sind, ist nicht nur in der Weise wahr, wie
er sie auffaßt, sondern auch noch in der, welche er verleugnet. Ästhetik
und Geschichte begegnen sich nicht nur im Gedanken des Konkreten,
sondern auch in der Art der Abhängigkeit des Konkreten vom Syste-
matischen. Wie das Kunstwerk in Wirklichkeit stets nur als Bauwerk,
Epos, Bild oder Symphonie faßbar, somit auf ein bestimmtes Form-
system bezogen erscheint, wie die Geschichte der Kunst nur geschrieben
Verden kann unter Voraussetzung gewisser historischer Gattungs-
begriffe, Typen, Charaktere, oder wie man sagen will, so bleibt die
Darstellung des Individuellen überhaupt, die Geschichte, stets an das
System gebunden. Es gibt keine Geschichte, wenn es nicht eine ein-
"eitliche Menschheit gibt. Die Menschheit aber ist nichts anderes
a's der konkrete Ausdruck für das alles Geschichtliche bedingende
Formsystem. Die Menschheit, nicht der einzelne Künstler, ist der
Wahrhaft unabhängige Genius. Croce wendet sich dagegen, das Be-
sondere vom Allgemeinen loszureißen. »Alle geschichtlichen Darstel-
'ungen sind zugleich individuell und allgemein« (182). Aber nur unter
der Voraussetzung der Trennung des Allgemeinen und Besonderen
lcann das Besondere bestimmt werden. Die Trennung von System
und Geschichte ist nicht das letzte Wort; sie muß jedoch gemacht
Verden, weil ohne sie das Individuelle eine unaussprechliche Tatsache
bleibt. Die Vereinigung von Individualität und Allgemeinheit, d. h. der
Satz von der Aussprechbarkeit der Individualität, bleibt ein bloßer
Machtspruch, solange das Allgemeine in seiner Selbständigkeit nicht
gesichert und in seiner Beziehung zum Besonderen nicht erkannt ist.
^roce kann den wichtigsten Gedanken seines Systems immer nur
Wiederholen: »die Kunst als Kunst ist immer individuell und immer
a"gemein« (275), aber er kann ihn niemals begründen, weil er jede
Anerkennung des Allgemeinen schon für »Formalismus« hält.

Seine Abneigung gegen das Abstrakte hat Croce verhindert, die
logische Begründung des schönsten Gedankens seiner Ästhetik, des
Gedankens von dem kosmischen Totalitätscharakter des Kunstwerks
2u finden. Diese Vorstellung, in der die Wirkung des deutschen
nachkantischen Idealismus auf Croce vielleicht am stärksten deutlich
 
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