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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0123
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110

BESPRECHUNGEN.

Rüstzeug liefern. Diese prinzipielle Voreinstellung ist für die Arbeit nicht immer
von Vorteil gewesen; die Unbefangenheit der Beobachtung hat zwar durch sie keine
merkliche Einbuße erfahren, aber das Gesichtsfeld wurde doch im vorhinein ein-
geengt und die richtige Deutung und klare Darstellung des Gesehenen gelegentlich
stark beeinträchtigt. Der Sympathie für die zumeist experimenial arbeitende Asso-
ziationspsychologie ist es wohl auch zuzuschreiben, daß der Verfasser seine Methode
ausdrücklich als experimentelle hervorhebt, obgleich er ohne Versuchspersonen und
besondere Versuchsanordnung gearbeitet hat und nur durch »wiederholte Selbst-
beobachtung unter Variation der Bedingungen« (Gedankenexperiment) zu seinen Er-
gebnissen gelangt ist, durch ein Verfahren also, das mehr oder weniger jeder gesetzes-
wissenschaftlichen Forschung eignet. In derselben Richtung liegt es, wenn in Hin-
sicht auf die Empfänglichkeit für lyrische Gedichte drei Reaktionstypen unterschieden
werden, ohne daß deren Aufstellung in irgendwelchen besonderen Versuchserfah-
rungen begründet wäre. Allerdings wird man gegen die Unterscheidung verschiedener
Grade lyrischer Empfänglichkeit kaum etwas einzuwenden haben. Aber die Annahme,
daß diese lyrische Empfänglichkeit stets mit allgemeiner Sensibilität zusammengehe,
dürfte einer genaueren Nachprüfung wohl nicht standhalten. Ebenso ist dagegen Ein-
spruch zu erheben, daß das Vermögen lyrischer Einstellung mit der ästhetischen Auffas-
sungsfähigkeit und dem Sinn für künstlerische Qualität in einen Topf geworfen wird.

Ob sich reine Lyrik wirklich, wie Scherrer meint, am allerwenigsten zur Dekla-
mation eignet, mag dahingestellt bleiben. Die Entscheidung darüber ist insofern
nicht von Belang, als auch für das stille Lesen ein inneres Sprechen angenommen
wird, das genau so wie das normale Sprechen eine motorische und eine akustische
Komponente besitzt. Diese beiden Komponenten, beziehungsweise deren psychische
Parallelen, die kinästhetischen und die Gehörsempfindungen, sind es nun, auf denen
sich nach Scherrer die Gestaltungsprinzipien der Lyrik aufbauen. Das erste, formale
Gestaltungsprinzip soll darin bestehen, daß sich das »Gesetz der Erhaltung der
Sprechweise« (Tendenz, Tempo, Tonhöhe, Tonstärke und entsprechende Muskel-
empfindungsstärke, so wie sie gegeben sind, beizubehalten) mit dem »Gesetz der
Veränderung der Sprechweise«, womit jegliches durch den Ausdruck bedingtes Ab-
weichen vom metrischen Schema gemeint ist, kombiniert. Es spricht sich darin also
nichts anderes aus als die Forderung eines Maßstabes, auf welchen das Schnell oder
Langsam, Hoch oder Tief, Laut oder Leise der tatsächlichen Tongebung stets be-
zogen wird. Daher kann ich in diesem formalen Gestaltungsprinzip kein der Lyrik
allein Eigentümliches erblicken; auch in der Musik z. B. ist ja dasselbe Prinzip
wirksam, indem die rhythmische, melodische und dynamische Bewegung an der
vorgezeichneten Norm des Tempos und Taktes, der Stimmlage und der allgemeinen
Tonstärke ihr Maß findet. Dagegen wird meines Erachtens mit dem zweiten Ge-
staltungsprinzip, dem materialen, wie Scherrer es nennt, ein für die Lyrik wesent-
liches Moment getroffen. Es besagt, daß »ein streng gesetzmäßiger Parallelismus
zwischen dem seelischen Gehalt eines Verses und dem zugehörigen Rhythmus« be-
steht, und Scherrer bemerkt ganz richtig, daß sich »Inhalt und Form viel inniger
decken muß, als man gemeinhin annimmt«, weshalb auch »die Umstellung der Wort-
folge eines Verses dessen Schönheit zerstört«. Da mit dem »seelischen Gehalt«, be-
ziehungsweise dem »Inhalt« die Bedeutung der Worte gemeint ist, der »Rhythmusc
aber, beziehungsweise die »Form« einen Teil des sprachlichen Ausdrucks ausmacht,
so kommt das materiale Gestaltungsprinzip Scherrers, beschränkt auf die Beobach-
tung einer bestimmten Seite des Ausdrucks, dem nahe, was ich als das Wesen
lyrischer Darstellung an anderer Stelle (vgl. Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissen-
schaft Bd. XIX, S. 261 ff.) aufzuzeigen versuchte.
 
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