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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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Lucka, Emil: Das Grundproblem der Dichtkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0144
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DAS GRUNDPROBLEM DER DICHTKUNST.

131

Bisher wurde davon gesprochen, daß zuerst eine Weltvision da
ist, die sodann in Worten widerscheint, daß Sprache von Welt ge-
formt wird. Aber auch der umgekehrte Fall ist — besonders in der
Lyrik — nicht selten: daß nämlich Sprachrhythmus, verwandt dem
musikalischen Rhythmus, durchs Blut jagt, durch die Seele hämmert,
daß dieser Rhythmus (zu dem auch das dunkle Gefühl architektonisch
aufgebauter Sprachperioden gehört) die Vision heraufbeschwört, die
ja wohl schon in dunkeln Gründen, halb vergessen oder nie recht
zum Bewußtsein gekommen, gewartet haben mag. Aber nicht die Vor-
stellung, die Weltvision ist hier das Erzeugende, sondern der Zwang
zur Sprachformung. Man erinnert sich, daß Goethe nachts aus dem
Bette steigt und halb schlafend in der Dunkelheit Verse aufs Papier
wirft, über die er selbst nicht recht Bescheid weiß.

Das Optimale freilich ist dies: daß Vision und sprachliche Gestalt
zugleich sind, eine höhere Identität bilden; in den begnadeten Stellen
echter Dichter ist dies wohl auch durchweg der Fall. Wo diese Ein-
heit von selbst da ist, dort stellt sich auch die Suggestion auf den
Empfangenden am sichersten ein, er hört nicht mehr Worte, er wird
mit allen seinen Sinnen in die Welt« des Dichters hinein verzaubert.
Diese Einheit von Welt und Wort kann, soll schon in den ersten
Keimen vorgebildet sein: die Ahnung kommender Vision ist noch
nicht nach den einzelnen Sinnen geschieden, Gesicht und Gehör
(Sprachgehör) sind noch Eines, Elemente aus anderen Sinnesgebieten
können eingesprengt sein, eine noch nicht ganz erfaßbare Stimmung
— das heißt dunkles, aber doch eindeutig gerichtetes Bewußtsein —
ist da, die aber zwingend und unverwechselbar Vision und — wenn
man mir den Ausdruck gestatten will — Audition in sich trägt, so
wie ein graues Samenkorn schon die eine Blume birgt — und durch-
aus keine andere. Der Dichter wird sich auch einer späteren Schei-
dung in Bild und Wort nicht recht bewußt, ja sie tritt in höherem
Sinne gar nicht ein, denn Welt und Wort sind ein Einziges, Wörter,
Sätze, Reime, Rhythmen sind mit der Vision zugleich da, die Menschen
des dramatischen Dichters stehen vor ihm, reden und handeln, er
schauhört ihnen klopfenden Herzens zu, hat kaum das Bewußtsein zu
schreiben — wohl ihm, wenn er rechtzeitig Stenographieren gelernt
hat, sonst kann er kaum folgen. Der Erzähler sieht alles Geschehen,
muß nicht überlegen, wie es in Sprache zu bringen sei, er hat kein
klares Bewußtsein, daß aus seinem Tun zweierlei herausanalysiert
werden kann: Welt und Wort.

Das ist ja das sicherste Merkmal des Stümpers, daß sich ihm
die beiden Reihen Welt und Sprache nicht reibungslos fügen wollen,
daß immer ein Rest bleibt: bald fehlt etwas, was zu sagen nötig wäre,
 
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