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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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Hoerner, Margarete: Der Manierismus als künstlerische Anschauungsform
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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0222
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BEMERKUNGEN.

20Q

Kopf wiederholt im Kleinen die Linienanordnung der Gestalt. Eine in die Stirn
hängende Locke kennzeichnet den Ansatzpunkt, an den Ohren sammeln sich die
Haare zu wogender Fülle, der Bart rundet das Oval nach unten hin ab (Köln,
Apostel).

Daß die größte Breitenerstreckung immer gerade in der Mitte der Figur liegt,
mag verwunderlich erscheinen. Säße sie aber oben oder unten, so würde die Be-
wegung sofort darauf zustreben und nicht mehr mit jener charakteristischen Ver-
zögerung, entsprechend dem allmählichen und übergangslosen Sichtbarwerden des
Kurventeils, über die Figur hinwegeilen. Wenn bei der barocken Gartenanlage das
Schloß Mittelpunkt des Geländes ist und alle Straßen auf das Zentrum zustreben
oder von dorther ausgestrahlt werden, so eilen sie von weit her an das sehr flache,
langgestreckte Rokokopalais heran, verweilen daselbst und verbreitern sich gleichsam
für Augenblicke, um dann mit steigender Geschwindigkeit wieder im Unbestimmten
zu verschwinden'). Niemand wird die Vorstellung gewinnen können, daß das Ge-
bäude die Bewegung zu sich heranzieht, es ist Durchgangspunkt oder besser jene
breiteste Durchgangsschnittlinie, der genau die Hüftlinie der Plastik entspricht.

In engem Zusammenhang mit der Bewegung steht die Schwere einer Figur.
Klassische Gestalten und Gebäude stehen fest, ruhen, aber drücken nicht auf ihre
Postamente, barocke lasten oder streben himmelstürmend empor, manieristische
schweben fatamorganahaft irgendwo im Raum. Es ist möglich, ohne den Eindruck
zu zerstören, eine gotische Figur des 14. Jahrhunderts mitsamt Baldachin und Sockel
— die nicht tragen und abschließen, sondern überleiten — ein wenig höher an dem
Pfeiler, an der sie angebracht ist, hinaufzuschieben, bei einer klassischen oder barocken
würde der Eindruck empfindlich darunter leiden.

Der Begriff der Gewichtslosigkeit ist von Jantzen2) als Stilcharakteristikum und
mit strenger — vielleicht etwas zu strenger — Trennung von dem der Ausgedehnt-
heit für die ganze Gotik in Anspruch genommen. Gewiß nicht mit Unrecht. Denn
wie wir bereits ausgeführt haben, wird der manieristische Stil im Mittelalter leichter
verwirklicht und länger festgehalten als der klassische oder barocke. Und mit ihm
auch das Prinzip der Schwerelosigkeit. Es gehört ein Ubermaß von Feinhörigkeit
dazu, um in den Naumburger Stiftern oder einer Madonnenfigur des 15. Jahrhun-
derts ein noch so leises Zurückweichen vor der vollen Schwere der Figur hin-
durchzufühlen. Das späte 13. Jahrhundert aber und das ganze 14. bringt jene
schwankenden, unwirklichen Gestalten hervor, die wir vornehmlich wegen ihrer
Entfremdung vom Körperlichen und ihrer Schwerelosigkeit als gotisch empfinden.
Die S-Kurve jedoch, die vor allem der gotischen Figur jede Standfestigkeit entzieht,
finden wir wieder im späten 15. und im 16. Jahrhundert. Und wo sie fehlt, bleibt
doch der Eindruck des Schwebens auch hier übrig. Halten wir uns wieder an
unseren niederländischen Manieristen Antonis Mor: der junge Alexander Famese
(Paris) steht so, daß er bei der geringsten Berührung hinfallen würde. Man kann
überhaupt nicht so stehen! Aber — abgesehen davon — er hat nirgends einen
Halt, eine Stütze in der Umgebung und so kommt jenes Schweben, jene Leichtig-
keit heraus, die Tizian noch bei all seinen Stehfiguren mit Umsicht durch Hinzu-
fügung eines Hundes, eines Tisches usw. zu vermeiden suchte. Und Velazquez
später nicht anders. Wenn aber eine Terborchfigur zu schweben scheint, so bleibt
sie gebettet in Atmosphäre, sie taucht aus dem Dunkel, in dem sie wieder ver-
schwinden kann, sie behält aber in ihm ihren festen stützenden Halt.

') Rose, Spätbarock. München 1922.

*) H. Jantzen, Deutsche Bildhauer des 13. Jahrhunderts. Leipzig 1925.

Zeitsclir. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XXII. 14
 
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