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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0240
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BESPRECHUNGEN.

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(Fabrikanlagen) und verwandte Gebiete auf die Entwicklung der Baukunst eingewirkt
haben: wie das Industrielle in das Kunstwerk eingegangen ist, wie es in ihm Form
geworden ist (als neuestes Beispiel das Chilehaus in Hamburg von Höger, ein Büro-
haus, nach Sörgel [Baukunst I 1,3 ff.] »ein Markstein in der Geschichte der Baukunst«).
Tietze erklärt: die neue Auffassung möchte in denselben künstlerischen Tatsachen,
die für die Entwicklungsgeschichte »verschiedene autonome Entwicklungsreihen« dar-
stellten, »gleichzeitig den Ausfluß allgemein waltender geistiger Kräfte« erkennen
(S. 191). So gewinnen Form und Inhalt ihre »alte geschichtliche Einheit« wieder als
«unzertrennbare Manifestation der gleichen Geistigkeit«. Der Unterschied gegen die
Kunstgeschichte auf kulturgeschichtlichem Hintergrund ist vollkommen klar: »Die
Kunst ist nicht eine Illustration der geistigen Entwicklung, sondern ein Teil dieser«.
Besonders betont Tietze die Möglichkeit einer »von Grund aus neuen Ikonographie«,
als deren Verbreiter die Arbeiten von Giehlow und Warburg gelten können (S. 191).
Hier sieht er auch seinen Arbeitsplatz, sobald er die ihm übertragene Neuordnung
des österreichischen Kunstbesitzes durchgeführt hat. Die neue Kunstgeschichte folgt
nur einer neuen Auffassung der Kunst (S. 188). Die vorausgegangene Generation er-
arbeitete der Kunst und damit der Kunstgeschichte die Autonomie, ein Vermächtnis
des 18. Jahrhunderts lebendig erhaltend und erweiternd und festigend (S. 185). Das
aus unserer Zeit kommende Kunstwerk »will wieder der Ausdruck verschiedenarti-
ger geistiger Lebensmächte sein« (S. 188) und es will wieder zurück zum vollen Le-
ben (S. 187). Umgekehrt: alle geistige Lebendigkeit drängt zur künstlerischen Form.
Die Kunst »ist einmal das Gebiet, auf dem alle geistige Lebendigkeit sinnlich erfaß-
bare Form wird«. Das Geformte aber wird zum Denkmal des in ihm Geformten
(S. 190). Eine Funktion der Kunst hebt Tietze besonders hervor, die soziale Funktion.
Sie besteht für ihn darin, daß die Kunst immer von neuem, was allgemeines Eigen-
tum der Zeit ist, erfaßt und ins Individuelle umsetzt (S. 190). Umsetzend ergreift sie
immer neue Gebiete. Das ist ihr Lebensprozeß, daß sie unablässig Leben in Kunst um-
formt. Darum darf die Kunstgeschichte »im Kampf um eine geistesgeschichtliche Inter-
pretation aller Vergangenheit die Sturmfahne voranzutragen« begehren. So sehr Tietze
die neue Auffassung von der Kunst und ihrer Geschichte vertritt, so wenig über-
sieht er die Gefahren, die sie bedrohen. »Im Kunstwerk den Schnittpunkt verschie-
dener geistiger Kräfte zu sehen, könnte noch gefährlicher sein, als es zu einem Bündel
sich schneidender Formalentwicklungen zu machen . . . Das Kunstwerk läuft Gefahr,
aus einem organischen Ganzen — um das ist es Tietze gerade besonders zu tun
(S. 188, 189, 191, 192) — zum bloßen Träger von Ideen zu werden« (S. 194). Die
Lösung, die gegeben wird, möchte mir mehr als befriedigend sein. Das Kunstwerk
wird in Beziehung, in eine wesenhafte, zum allgemein Geistigen gesetzt. Diese Weite
wird in lebendiger Weise an die Tiefe des Individuums gebunden: je größer der
Künstler ist, desto gewaltiger ist der geistige Umkreis, den er umfaßt« (S. 195).
Der Schlußsatz lautet: Eine gesteigerte Schätzung des Individuellen hält der ver-
mehrten Einsicht in die soziale Funktion der Kunst das Gleichgewicht« (S. 194). Wie
das Kunstwerk nicht »Träger« der Ideen ist, ebenso wenig das Individuum (man
mag dabei an die von Locke vorausgesetzte und bekämpfte Fassung des alten Sub-
stanzbegriffes denken). Der Künstler schafft diesen Stoff aus seiner Genialität heraus
um. .Das ist es, was Michelangelo, Dürer, Reinbrandt oder auch Watteau — Tietze
verweist auf Hildebrandts Buch (Berlin 1923) — zu Ereignissen nicht nur in der Ge-
schichte der Kunst, sondern in der der Menschheit macht und jedem Pinselstrich
und Filigerdruck, den die Nurkenner mikroskopieren, die unvergleichliche Besonder-
heit verleiht. Nun fragt man sich, wie der Verfasser der »Methode der Kunstge-
schichte« von diesem neuen Standpunkt aus über sein Werk von 1913 urteilt. Schon
 
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