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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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Bruch, Bernhard: Novelle und Tragödie: Zwei Kunstformen und Weltanschauungen: (Ein Problem aus der Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts)
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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0342
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NOVELLE U. TRAGÖDIE: ZWEI KUNSTFORMEN ü; WELTANSCHAUUNGEN. 329

bewerb mit ihm sich entwickelt hat, und ungefähr in dem Maße, in dem
das 19. Jahrhundert durch seine deterministische und relativistische Welt-
anschauung weithin unfähig wurde zur Sicht und zur Gestaltung des
echten Tragischen. Der Novelle, das ist gezeigt worden, ist der Bereich
des Tragischen grundsätzlich verschlossen. Aber wenn nun im
19. Jahrhundert die Novelle beginnt, an der Tragödie zur Form von
einer Größe und Strenge sich emporzusteigern, in der sie nur von
dieser selbst noch übertroffen wird, so ist es, als ob die moderne Seele,
in einem Zeitalter weitgehenden sonstigen Formenverfalls, ein tiefes Be-
dürfnis gehabt habe nach der Ausbildung einer der Tragödie entsprechen-
den Form von genau derselben Strenge und Ideebestimmtheit, aber für
die entgegengesetzten Inhalte des Glaubens, Willens und der Weltan-
schauung ... ein Verlangen sozusagen nach der Bildung der strengen
Tragödienform nun auch für die neue, nunmehr zeitgemäße »Untragische
Tragödie«, als die man paradox die Novelle definieren könnte; wie sie
ja in allem das genaue Gegenbild der wirklichen Tragödie ist.

Es ist bezeichnend, daß unsere Zeit, zum wenigsten in Deutsch-
land, seit den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts kein großes
Drama, nur die Novelle in größter Ausbildung hervorgebracht hat und
selbst die Tragödie weitgehend novellisiert hat. Die Novelle hat in
ihrem Wettbewerb die Tragödie für einige Zeit überwunden.

Die außerordentliche Wertschätzung alles Subjektiven, die Konzen-
tration auf das Einzelindividuum und sein Schicksal, sowie das Interesse
am Verständnis eigenartiger psychologischer Probleme, — Dinge, wie
sie sämtlich zu den Grundzügen des ausgehenden 19. Jahrhunderts und
beginnenden 20. Jahrhunderts gehören, sind Wesensbestandteile des
geistigen Gehaltes der modernen großen Novelle. In ihr finden diese
Gehalte diejenige Form, in der sie ihre prägnanteste, konzentrierteste,
symbolisch strengste Dichte der Gestaltung erreichen können, die einzige
Form, in der auch sie zu wahrhafter Monumentalität der künstlerischen
Wirkung aufzusteigen und in eine Art Analogie zur Tragödie zu treten
vermögen. Die Tragödie selbst aber wird zersetzt in dem Maße, in
dem diese Elemente der Novelle auch in sie wesensbestirnmend mit
eindringen (Gerh. Hauptmann). Das ursprüngliche Interesse der
Tragödie liegt entscheidend nicht im Subjektiven und in der Wieder-
gabe psychologischer Prozesse, sondern in der symbolischen Darstel-
lung einer unlösbar tragischen Situation in ihrem höchsten, gleichnis-
haft reinsten Augenblick, in dem sie stellvertretend wird für die kos-
mische Gegründetheit und objektive Notwendigkeit des tragischen
Phänomens überhaupt.

Die Subjektivität und Psychologie führt die Novelle notwendig auch
zu der einzigen Weisheit, die sie letzten Endes zu offenbaren hat: der
 
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