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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0351
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338

BESPRECHUNGEN.

äußerste Grenzen bestimmt. Ist eine solche sechsstufige Periode verstrichen, so
schiebt sich eine Etappe mit stabilem Quantitätsgefühle ein, worauf die frühere sechs-
stufige Periode wiederkehrt.« Diese in der Abfolge der Jahrhunderte die Kunstwerke
regelnden Bewegungsgefühle sollen in ihrer chronologischen Ordnung heißen: Hori-
zontale, Kreis, Vertikale, Ellipse, Diagonale, Spirale. Sie repräsentieren ebensoviele
»Seinsstufen« in verschiedenen Stärken der Abstraktion. Die niedrigste Stufe ist der
Mensch selbst mit seinem stabilen Schwerkraftgefühl, das in dieses System der Be-
wegungsgefühle als Ausgangsstufe in der Form des Punktes einzutragen sei. »Die
Horizontale ist merowingisch-karolinisch, der Kreis ist der Grundsatz der Romantik,
die Vertikale herrscht in der Gotik, die Ellipse im Frühbarock, die Diagonale im
17. und 18. Jahrhundert, die Spirale im 19. und 20. Jahrhundert.« Diese den Epochen
zugeschriebenen Bewegungsgefühle werden in einem zeichnerischen Schema darge-
stellt, das zur Andeutung der Seinsstufen Kugelschalen konzentrisch um den Punkt
legt und in jeder dieser Schalen das Zeichen ihres charakteristischen Bewegungs-
gefühles, Horizontale, Kreis, Vertikale usw. einträgt.

Dies Schema der »quantitativen Seinsstufen« gilt nun auch als Schlüssel zur Er-
kenntnis der Bewegungsformen im Planetensystem, dessen physischer Organismus
mit seiner Bewegungsart identisch angenommen werden soll. Hier wird »Bewegung«
ganz im raum-zeitlichen Sinne gebraucht. Zierer ist der universellen Gültigkeit seines
Schemas für Psyche, Kunst und Weltall so sicher, daß er hofft, »so manches Be-
wegungsrätsel im Welträume« würde sich mit Hilfe dieser Orientierung nach dem
Gefühlserlebnis lösen lassen. Einige der zu lösenden Fragen nennt er selbst. »Wo
ist nun die Seinsstufe der Horizontalen? Sie kann nur zwischen dem System Erd-
planet und dem Wesen Mensch angenommen werden« — dem Menschen die Punkt-
stufe, der Erde die Kreisstufe ihrer Achsendrehung wegen zugeordnet — »denn die
Horizontale ist der zweite Aufstieg der Quantitätsskala. Wo bleiben noch die Seins-
stufen mit vertikaler, mit diagonaler Bewegungsform? Welche Bewegung kommt
dem Sonnensystem zu?« Den Ausblick in das Weltall mit gleich fundierten Hoff-
nungen zu begleiten, werden aber nur Wenige wagen. Die Zerstörung kausalge-
danklicher Zusammenhänge, mit denen die Metaphysik gearbeitet hat, kann nur auf
Grund ihrer Widerlegung, nicht auf Grund ihrer Nichtachtung geschehen. Ohne
Intellekt wäre der Philosoph nicht imstande einen Satz, und ohne Gefühl vermöchte
er nicht, einen richtigen Satz zu sprechen. Wohin kann er noch kommen, wenn
er Intellekt und Fühlen auseinanderreißt und den einen mit dem anderen umzu-
bringen sucht?

Das quantitative Schema, gültig für Kunst und Weltall, bedarf nach Zierer noch
einer Ergänzung, wenn es zur vollen Erkenntnis der Kunst ausreichen soll. »Denn
die Quantität ist nur eine Komponente, doch zur Kunst gehören deren zwei: Die
Qualität muß hinzutreten.« Diese einfache Erklärung der Kunst aus zwei Kompo-
nenten erscheint gegenüber dem hochkoniplizierten geistigen Geschehen beim künst-
lerischen Handeln ein philosophischer Leichtsinn. Dieser wird auch dadurch nicht
wieder gut gemacht, daß Zierer den Qualitätsäußerungen der Kunst, die in ihrem
»unsinnlichen« Farbcharakter bestehen sollen, das Thema »Mensch-Gott« zugrunde
legt. Der bewegungsmäßigen quantitativen Farbvollkommenheit soll eine qualitative
sich verbinden. »Das Bewegungsgefühl eines Kunstwerks, z. B. die Vertikale der
Gotik, treibt aus dem Farbstoffe der Altartafel ein qualitatives Thema heraus.« »Aus
den Farbpigmenten wird ein psychischer Extrakt gebraut,« bei dem »das Gegen-
ständliche nichts über den Inhalt besagt«. »Rembrandts Bild einer geschlachteten
Kuh hat denselben Inhalt wie sein Selbstporträt.« (!)

Also ein psychisch wahrgenommenes Farbgefühl, resultierend aus der Summe
 
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