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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0497
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484

BESPRECHUNGEN.

Dehmel war in Gefahr in die Romantik zu verfallen, in seinem maß- und gesetzlosen
Streben. Da kam Frau Paula in sein Leben und schenkte seinem wilden Blute Maß
und Beruhigung und gab ihm den Glauben an sich und an die Welt; der Brotberuf
lehrte ihn, sich einer unsympathischen Ordnung einzureihen; die zarte Gestalt Hed-
wig Lachmanns zwang den Dehmeischen Dämon, sich selbst zu bändigen; Italien
offenbarte ihm Natur und Kunst als eine harmonische Einheit, eine Harmonie, die
dann in der zweiten Ehe Verwirklichung fand. Der dionysische Trieb, alle Lust zu
ergründen, gelangt — durch die Aufnahme und das Sichdurchdringenlassen dieses
Triebes — zu der apollinischen Ruhe, durch die der Dichter »dem Schicksal gewach-
sen«, »gotteins mit der Welt« wird, da ihm die »tragische Freude zu dienen« — um
dieses herrliche Wort Vischers zu gebrauchen — eigen geworden ist. Diese Ruhe
wird nicht in mystischer Einsamkeit, sondern im tätigen Kampf des täglichen Strebens
erlangt. Es ist eine Synthese zwischen Ost und West, eine harmonische Mischung
von Andacht und Schaffenslust, Pantheismus und Individualismus, die ideale Welt,
wo das Sollen und Wollen, Pflicht und Neigung, Vernunft und Gefühl ein einheit-
liches Ganze bilden.

Die Liebe, mit der der Biograph das Leben des Dichters zeichnet und seine
Werke eingehend bespricht, verhindert nicht, daß er kritische Stellung zu seinem
Gegenstand nimmt; Babs Kritik weist auf die Dunkelheit mancher Gedichte, wie
Venus Sapiens«, auf die Wirrnis der »Gottesnacht« hin und wendet sich hauptsäch-
lich gegen Dehmel den Dramatiker. Bab unterscheidet zwischen der lyrischen und der
dramatischen Phantasie und kommt zu dem Ergebnis, daß Dehmel die letztere nicht
besessen habe. (Der angebliche Grund, warum Dehmel sie nicht hatte, ist weniger
einleuchtend.)

Ist die Gestalt Dehmel auch glänzend herausgearbeitet, so weist doch Bab selbst
darauf hin, daß sein Buch nicht die endgültige Darstellung Richard Dehmels ist, schon
deshalb nicht, weil es nicht das überhaupt mögliche Material verwertet hat. Dehmels
Übertragung von L. Huysmans »Blinde Liebe« wird z. B. nicht erwähnt; auch Dehmels
erstaunlich vielfache Interessen — er schreibt nicht nur über Kunst und Literatur,
er analysiert ja auch das Rassen-Problem, kritisiert F. Auerbachs »Ektropismus« — wer-
den nur gestreift Vor allem sollte der Widerspruch anerkannt werden, derzwischen Deh-
mels Würdigung der materiellen Bedingungen einerseits und seiner sozialen Philo-
sophie anderseits besteht, denn in dieser erscheinen die ökonomischen und sozialen
Umstände als nichtiger Faktor. Nur einmal, in dem Aufsatz »Der Wille zur Tat«, hat
Dehmel die physischen, materiellen Voraussetzungen jeder seelischen Änderung her-
vorgehoben, und so bildet dieser Aufsatz Dehmels beste Kritik gegen seine ander-
weitig formulierte soziale Stellung. Auch die Anerkennung der Rolle, die Abenteuer-
lust und kameradschaftlicher Instinkt in Dehmels Kriegsteilnahme gespielt haben,
darf nicht Dehmels großes Mißverständnis der realen Triebfedern der Zeit verhehlen.

Richard Dehmels Bedeutung für unsere Zeit erblicke ich vor allem darin, daß er
den Pessimismus bekämpft hat. Der »Totenmesse« Przybyszewskis steht Dehmels
»Lebensmesse«; gegenüber. In einer Zeit, da Philosophen und Kulturhistoriker von
Krisen des gegenwärtigen Zeitalters sprachen, erkannte Dehmel das Einheitliche in
dem Zwiespältigen der Zeit, betonte er die bejahenden, hebenden Kräfte. In einer
Zeit, da die Erben von Buckle und Darwin den Menschen als Marionettenpuppe sehen
wollten, als Zola den Menschen als »produit de Vair et du sol COtnme la planier zu
begreifen versuchte, wies Dehmel mit Nietzsche auf die seelische Kraft des Indivi-
duums hin, als auf eine natürliche Kraft, vielleicht noch stärker und bedeutender
als die anderen In einer Zeit, als die Botschaft Rousseaus in Rußland und anders-
wo Nachhall fand, sprach Dehmel das Wort von unserem »Kulturgewissen*, suchte
 
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