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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0501
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BESPRECHUNGEN.

eine Strecke weit nachfühlend folgen können.« Weniger hochmütig, aber dafür mit
viel feiner und intimer Analyse psychiatrischer und künstlerischer Einzelheiten, wenn
auch der Aufgabe nicht ganz gewachsen, beschäftigt sich Riese (auf Kleists Spuren)
mit »Vincent van Gogh in der Krankheit« (Bergmann, München 1926). Seine Pole-
mik gegen Jaspers, später in einer Tageszeitung fortgesetzt, verkennt einem metho-
dischen Fachgesichtspunkt zuliebe die Einstellung von Jaspers. In Sachen der eigent-
lichen Deutung, Erklärung der Beziehung zwischen Kunstwerk und Krankheit, wo-
rauf Riese den Hauptwert legt, kann er nichts sehr Wesentliches beibringen. Natür-
lich gefällt es dem Kunstschriftsteller, wenn »ein ungeheurer Drang zur Darstellung«
als Qrundantrieb sowohl für die Lebenskurve wie für die künstlerische Entwicklung
van Goghs genannt wird. Aber der kluge Hausenstein spinnt diese doch recht vage
»Erkenntnis« gleich weiter: — »nun geschieht, daß dieser Drang abgleitet; nun schnei-
det van Gogh sich jenes Ohr vom Kopf. ..; so stellt er dar — auch so«. Und
damit sitzen die formal sicheren Erklärer fest und begreifen vielleicht plötzlich, daß
Ref. in der »Bildnerei der Geisteskranken« möglicherweise durch gute Gründe und
Einsichten veranlaßt war, alle Formulierungen vorläufig nur auf Richtung, nicht
auf Abgrenzung anzusetzen, zu späterem Weiterbauen. Es muß leider gesagt wer-
den, daß die sachlichen Meriten dieses thesenlosen Vorgehens auch von Jaspers
nicht bemerkt worden sind. Aber dieses Problemgebiet ist ja bislang nur ange-
schnitten, und so kommt wenig darauf an, ob die wichtigen Erkenntnisse sich von
den zitierbaren Übergangsthesen etwas früher oder später im Bewußtsein der Wissen-
schaft sondern.

Jaspers, dessen »Allgemeine Psychopathologie« immerhin neben Freuds psycho-
analytischer Lehre den stärksten Einfluß auf die Entwicklung dieses ganzen For-
schungsgebietes gehabt hat, geht also aus von dem Zustande der Ergriffenheit, den
er gerade auf Grund seiner klinischen Erfahrung an Kranken den Werken wie den
Persönlichkeiten eines Strindberg, van Gogh, Hölderlin, Swedenborg gegenüber er-
lebt hat. Er konnte sie nicht (wie es andere anscheinend für besser halten) als
»Fälle«, einfach als Material nehmen für fachwissenschaftlich »kalte, klare Unbe-
rührtheit, die in der Fülle der bunten erregenden Einzelheiten die einfachen Linien
des Allgemeinen und den sicheren Schritt der Gesetzlichkeit sucht« (Kleist). Nun,
Jaspers' Rang besteht gerade darin, daß er die Anwendung solcher formalen Fach-
gesichtspunkte gegenüber einem Hölderlin, Nietzsche u. a. aus Gründen der mensch-
lichen Kultur in ihre Schranken verweist und sich von der beschränkten Beamten-
barbarei fernhält, die im Namen des Diagnosenschemas schöpferischen Vorgängen
und Menschen mit der gleichen Unberührtheit zu begegnen vermag wie einem
kulturell bedeutungslosen »hoffnungslosen Fall«, oder, der Idee nach, wie den
Serienschnitten eines Fonnalingehirns. — Für Fernerstehende, die etwa schon bei
Jaspers die Einmischung psychiatrischer Fachgesichtspunkte in Erörterungen über
Kunstwerke und Künstler glauben beanstanden zu müssen, mag dieses Schlaglicht
auf die internen Spannungen im Lager der Psychiater von Interesse sein. Ihnen soll
dadurch gezeigt werden, daß man auch heute noch sich nicht nur unbeliebt macht,
sondern hochmütigen öffentlichen Zurechtweisungen aussetzt, wenn man, wie Jaspers,
die Kompetenz der klinischen Psychiatrie für kulturelle Probleme skeptisch betrachtet,
hingegen philosophischen Gesichtspunkten, kulturellen Maßstäben und menschlichen
Wertungen in diesen Problemen einen höheren Rang zuerkennt.

Die Hauptbefunde, die Jaspers seinen allgemeinen Erwägungen zugrundelegt,
sind seit der 1. Auflage in die Literatur übergegangen und öfters diskutiert worden:
bei Strindberg weist er den Verlauf einer echten schizophrenen Psychose einwand-
frei nach, da ein ungemein reichhaltiges biographisches Material alle Stufen dieses
 
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