Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0512
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
BESPRECHUNGEN.

499

phische Wesensschau und Deduktion, sondern nur eine psychologisch erschöpfende
Beschreibung des ästhetischen Bewußtseinszustandes. Deswegen erhebt sie gegen
die Lehre vom allgemeinen, aber begriffslosen Wohlgefallen den Einwand, sie ent-
spräche nicht den Tatsachen, da das ästhetische Bewußtsein seinen Gegenstand
auch begrifflich durcharbeiten muß, und sie bedenkt nicht, daß diese Behaup-
tung nicht die andere ausschließt, daß nämlich das Wesen des ästhetischen Gefühls
in einem begriffslosen Erlebnis bestehen kann, wenngleich in dem es tragenden
Bewußtsein alle Komponenten des Erkennens und des Wollens mitspielen müssen.
Den letzten Punkt läßt Kant in der Lehre von den vier ästhetischen Urteilsformen
außer Betracht, weil er zunächst versucht, das ästhetische Moment in seinem nur
ihm zukommenden Wesen aus anderen Momenten des Systems zu deduzieren, um
erst im nachfolgenden seine Entwicklung im Bewußtseinszusammenhange darzu-
stellen. Da die vier ästhetischen Urteilsformen das ästhetische Moment an sich,
nicht aber in seiner Äußerung betrachten, so erwecken einige von ihnen beim
marxistischen Kritiker den Anschein, daß die Kunst bei Kant als »Kunst für die
Kunst« verstanden wird (S. 132). Anderseits kommt Frau S. wegen der engen Be-
ziehung der ästhetischen Urteilskraft zur praktischen Philosophie zu der paradoxen
Behauptung, daß Kants Ästhetik seiner Ethik untergeordnet ist. Sie beruft sich dabei
auf die Lehre vom Ästhetischen als dem Symbol des Sittlichen (S. 56), und über-
sieht vollständig, daß hier keine Unterordnung, sondern ein transzendentaler Zu-
sammenhang behauptet wird. Wenn nämlich Kant die ästhetische Urteilskraft als
Fähigkeit, die Idee zu versinnlichen, einführt, so will er damit nur das Ästhetische
transzendental auf das schon deduzierte Ethische gründen: das Ästhetische erwächst
aus dem Sittlichen als »Bedingung seiner Möglichkeit«, durch die der ethische
Grundwiderspruch zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen Sollen und Glück syn-
thetisch überwunden wird. Ebenso wurde an seiner Stelle das Praktische aus dem
Theoretischen als Auflösung der dynamischen Antinomien aufgestellt. Es ist das
Erwachen der vollkommeneren Form aus der grundlegenderen als Ermöglichung
der letzteren durch die erstere, keineswegs aber eine Über- oder Unterordnung.

Wie fremd dem Kritiker der Geist von Kants Lehre geblieben ist, bezeugt
seine Ansicht, daß Kant lebensfeindlich gestimmt ist. Besonders soll dies von der
Philosophie des Erhabenen gelten, die als »Pfaffentum« und »Verherrlichung des
Jenseits« schroff abgelehnt wird (S. 149). Schwerlich könnte man eine Lehre noch
gründlicher mißdeuten. Kant lehrt, daß, wenn die blinde Naturgewalt sich dem
Menschen in ihrer Unbändigkeit zeigt, in der er als bloßes Naturwesen sinnlos,
d. h. ohne Zweck, nach Kausalgesetzen leben und vergehen würde, daß er dann
seine ethische Freiheit konkret fühlt: Der Mensch erlebt dann, daß er die Natur-
gesetze nicht bloß in der Erkenntnis teilnahmslos abbilden, sondern ihren Ablauf
der Idee unterstellen und dem Naturgeschehen einen menschlichen Sinn, eine
Zweckbezogenhcit aufprägen kann, ohne dabei die Kontinuität der über alles herr-
schenden Kausalität zu durchbrechen. Es werden dadurch im Universum zwei Herr-
scher gesetzt: die Ursache und das Ziel, die in ihrer Allherrschaft harmonisch mit-
einander bestehen. Die Verflochtenheit der Notwendigkeit mit der sinngemäßen
Freiheit oder Autonomie, d. h. der Natur mit der Tätigkeit des »intelligiblen Cha-
rakters« — das ist das Wunder in Kants Philosophie, das durch die Antinomien-
lehre als Ermöglichung der Erfahrung gefordert, in der Ethik aufgestellt, in der
Religionsphilosophie versprochen und geglaubt, in der Ästhetik und Teleologie aber
bestätigt wird. Sicher begegnet auch der orthodoxeste Marxist diesem Wunder,
denn auch er wird vom Menschen nicht bloßes Mitmachen der Naturkausalität
dulden, sondern von ihm Einsicht und auf Einsicht gegründete zielbestimmte Tätig-
 
Annotationen