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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1915)
DOI Artikel:
Natorp, Paul: "Wissenschaftlicher Pazifismus"
DOI Artikel:
Jesser, Franz: Voraussetzungen des mitteleuropäischen Staatenbundes
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0070

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einem Sinne hat er recht: Menschheit ist noch mehr als Deutschheit. tzat
Deutschland unersetzlichen Wert, dann zuletzt um der Menschheit willen. Aber
eben dann gilt doch für uns Deutsche: Deutschland, Deutschland über alles.
Ans ist dies hohe Gut des Deutschtums zu treuer tzut befohlen, das dürfen
wir nimmer im Stich lassen. Das hieße den Posten verlassen, auf den das
Geschick der Welt uns gestellt hat.

So, sage ich, ist unser Glaube. Aber schon die erste Voraussetzung dieses
Glaubens, die von Völkerindividualitäten, wird bestritten. Das
halt man für falsche deutsche Mystik oder Metaphysik, über die die „Wissen-
schaft^ längst hinweggeschritten sei. tzier liegt der Kern der ganzen Frage.
Also bedarf dieser Punkt einer besonders ernsten Prüfung: Was ist Volks-
tum? Was ist Deutschtum? Am aber darüber zur Klarheit zu kommen, bedarf
es zunächst einer allgemeineren, geschichtsphrlosophischen Vorerwägung.

Paul Vato rp

Voraussehunge» des mitteleuropäischen Staatenbundes

^--^tto Goebel erzählt in seinem Reisewerke „Vom Aral bis Sachalin" ^
^ ^(Berlin von der Gastfreundschaft, die ihm ein tschechischer Brau-
meister in Djumen gewährt habe: „Bemerkenswert war mir im tzause
des Böhmen, daß er hier in der Fremde die höhere Kultur über die Rassen-
frage stellte. Deutsch war die Sprache, in der er seine Kinder erzog, und
der Vollbluttscheche galt den Tjumenern als Deutscher, fühlte sich womög-
lich selbst als solcher/ An einer anderen Stelle sagt er: „tzier außer-
halb der Ostseeprovinzen geben sich auch Letten und Esten als Deutsche^.
Tschechen, Letten und Esten folgen einem moralischen Zwange, wenn sie
deutschen Lebensanschauungen und Lebensformen den Vorzug vor den
russisch-sibirischen geben. In ihnen finden sie in schärfster Ausprägung
ihre eigene Art wieder. Die Pflege deutscher Kultur erhöht ihre Wider-
standskraft gegen die osteuropäischen Einflüsse und bewahrt sie vor dem
kulturellen Abstiege.

Die Artverwandtschaft ist in diesem besonderen Falle stärker
als die Sprachverwandtschaft.

Zwar sind die drei Vertreter der „Zwischenvölker" in der sibirischen
Zerstreuung nicht Gesinnungsdeutsche geworden — wohl aber sind sie
entschlossen, Kulturdeutsche zu bleiben, um ihre ererbte und an-
erzogene Eigenart und damit das Wertvollste ihrer Persönlichkeit nicht
zu verlieren. Das kulturelle Deutschtum schützt sie vor dem Verluste ihrer
westslawischen Eigenart. Die mitteleuropäische Kulturgemeinschaft ist für
sie eine Interessengemeinschaft geworden. Sie fühlen sich mit
dem Deutschtume in einer höheren Einheit als der sprachlichen verbunden.
Sie ahnen, daß nur diese Einheit, dieses größere Ganze, vereinbar ist
mit der Erhaltung und Entwicklung ihrer besonderen nationalen Indivi-
dualität.

Es wäre jedoch ein Trugschluß, aus dieser Anhänglichkeit an die
deutsche Kultur auf eine stille Liebe zum deutschen Volke zu schließen
und von der vermehrten Pflege deutscher Kultur eine politische Gesinnungs-
änderung der nichtdeutschen Völker und Staaten zu erwarten.

Eine deutsche Nationalpolitik dieser Art wäre ein Versuch mit untaug-
lichen Mitteln — denn die Staaten- und Völkergegensätze bestehen un-
abhängig neben der Kulturgemeinschaft.

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