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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1915)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Zur Frage der Kriegslyrik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0022

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Zur Frage der Kriegslyrik

b und zu versichert uns irgendein Literaturkritiker, daß die weitaus

größte Zahl der in Zusammenhang mit dem Krieg entstandenen Ge«
^(^dichte — drei Millionen sollen es sein! — „künstlerisch" nicht viel
bedeutet. Und Klagen aus dem Feld über die nutzlose, ärgerliche Sendung
kleiner, kriegerisch gestimmter Gedichtbücher erhält man jede Woche. Was
einem da aus dem Felde an Zeugnissen der Papier- und Tintenverschwen»
dung gesandt wird, berechtigt auch oft zu einiger Bitterkeit, und keinem
Kritiker sei ein Stoßseufzer über den Stoß belangloser Zeiterzeugnisse ver«
argt, der seinen Schreibtisch und sein kritisches Gewissen bedrückt. Davor aber
möchte ich warnen, alle Gedichte jetzt unter dem Gesichtpunkt ihres rein
künstlerrschen Wertes zu betrachten. Das Sichten ist jetzt mehr als jeSache
der Zeit; wer jetzt daherkommt mit der Behauptung, daß „schließlich doch
nur" zwanzig oder dreißig Kriegsgedichte vor dem Richterstuhl der Ewig-
keit bestehen werden, versucht ihr vorzugreifen. Die Zahl von immerhin
mehreren hundert Kriegsgedichten, die man wenigstens ernst nehmen
kann, hat eine ganz andre Bedeutung und erfüllt eine ganz andre Sendung
als eine rein künstlerische. Eine im weitesten Sinne des Wortes gesell-
schaftliche Sendung. Im Vordergrunde steht da das Gedicht als Bericht.
Es hat heute vielfach die Funktion der Prosa übernommen. Lesen wir im
Frieden Berliner Romane, russische Romane, Künstler-Romane, um etwas
über das Wesen Berlins, Rußlands, der Künstler zu erfahren, so lesen ivir
Daheimgebliebenen heute Gedichte, um das Wesen des Kriegserlebnisses
und der Kämpfer kennen zu lernen. Die Kämpfer draußen aber dürften
wohl Gedichte ablehnen, die hohlen Klangs sind oder gar Phantasien am
Schreibtisch über das Leben im Schützengraben und in der Feldschlacht
darstellen, was ihnen aber von hoher Gesinnung der Daheimgebliebenen,
von ernstem Wollen und Tun, von heimatlichem Idyll, von Dank, von
Ziel- und Zeitbewußtsein ernstes Zeugnis gibt, was sie innerlich ver-
knüpft mit denen, für die sie draußen stehen, das wird ihnen nicht unwill-
kommen sein. Natürlich ist es nicht die Alltäglichkeit, die von beiden
Seiten das Gedicht vermittelt, sind es nicht die kleinen Einrichtungen und
Gewohnheiten draußen und drinnen, was dichterischer Kündung bedars.
Dazu Haben wir Briefe und Berichterstatter. Das Gedicht setzt uns in
Verbindung mit dem inwendigen Menschen, mit der geschichtlichen Ab-
stimmung eines Menschen, mit all jenem, was sich von Mund zu Mund
oder neben der Bitte um Lichtstümpfe und neben einer Erzählung von
Mehlpreisen nicht hervorwagt. Dazu hat das Gedicht gewöhnlich mehr
Leser als der Brief; es schlägt Brücken zwischen Tausenden, die sich nicht
kannten, es stellt neben vielem andern eine große Gemeinschaft der Ge-
sinnung her, wie wir sie uns wohl wünschen dürfen. Zum andern
aber wirkt es auf diese Gesinnung selbst. Manche Gedichte, die ins Poli-
tische hinüberspielen, bilden dafür besonders augenfällige Beispiele. Und
sie erfordern allerdings nicht selten ganz andre Behandlung als die hier
gemeinten, sie liefern sich gleichsam von vornherein dem Kulturpolitiker
als Gegenstand seiner Tagesarbeit aus. Richt so das von der greifbaren
Tagesidee abgelöste, eigentlich lyrische Gedicht. In vielen Tausenden ist
heute ein Bedürfnis nach Erhebung, Erbauung. Und selbst

„wer auch fest in sich gegründet,
unverzagt dem Sturm begegnet,

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