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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1915)
DOI Artikel:
Jesser, Franz: Wir Deutsch-Österreicher
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Michel, Wilhelm: Eine Hauptgefahr für unser Kunstgewerbe
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0279

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Wir bitten die Reichsdeutschen, uns nicht blotz nach unseren geselligen
Talenten, sondern auch nach unserer Arbeit zu beurteilen. Die Statten
unserer sprichwörtlichen Gemütlichkeit sind freilich auch die Statten land«
schaftlicher Schönheit und darum die Ziele deutscher Wanderlust.

Die Stätten unserer intensivsten Arbeit aber liegen in Aordösterreich,
die unserer kolonisatorischen Leistungen am Rande oder gar mitteninnen
nichtdeutscher Siedelungsgebiete.

Die ersten sind wohl unseren sächsischen und schlesischen Aachbarn be-
kannt, nicht aber den nord- und westdeutschen Volksgenossen, die zweiten
aber meiden reichsdeutsche Reisende grundsätzlich. Und doch können sie
in diesen beiden Gebieten allein die Rückwirkungen nationaler und geo-
graphischer Mannigfaltigkeit auf die ftaatliche, wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Organisation kennenlernen, die Wirkung der Amwelt, aber auch
die des ewigen Unwägbaren. Wir wissen, daß sie dann Achtung vor unserer
Art haben werden, weil sie unsere Arbeit kennen. Franz Iesser

I

Eine Hauptgefahr für unser Kunstgewerbe

/-^^icht lange vor dem Kriege dachte eine Handelsgesellschaft in Berlin
R neues Gasthaus aufzuführen, und das sollte etwas ganz Fabel-

^ ^haftes werden und ein unbedingter Schlager. Das ganz Fabelhafte
fand man darin, daß der Bau im echtesten Louis XV. von einem Pariser
Architekten ausgeführt und von französischen Innendekorateuren ausgestattet
werden sollte. Man hielt die Nachricht erst für einen guten Witz. Dann
stellte sich der Ernst heraus, und die tüchtige Handelsgesellschaft zog sich
von Fach- und Tagespresse mehrere derbe Zurechtweisungen zu.

Ich möchte nun beileibe nicht mein Gewissen etwa belasten mit der
Bemerkung, diese Zurechtweisungen seien unverdient gewesen. Im Gegen-
teil: ich hätte der besagten tzandelsgesellschaft gerne wegen verbrecherischer
Arteilslosigkeit gegenüber der neuen deutschen Baukunst eine Geldstrafe
gegönnt. Immerhin, werte Zeitgenossen vom Kunstgewerbe, gibt es für
die straffällige tzandelsgesellschaft eine Art Entschuldigung. Sie zog ja
nur eine Folgerung, deren Prämissen ihr von anderen und leider sehr
Berufenen geliefert worden waren. Sie sagte sich: An allen Ecken
und Enden sieht man jetzt das deutsche Kunstgewerbe
sich zu den historischen Stilen zurückwenden, zurück-
schleichen, zurückstehlen. Auf dem „Imperator^ gab es „Stil-
räume". Dagegen empörten sich die Vertreter des deutschen Kunst-
gewerbes sehr mit Recht. Nun ist es aber dieses Neudeutsche Kunst-
gewerbe selbst, das seine wachsende Vorliebe für die Nachahmung ver-
gangener Kunstgewerbe-Formen auf alle Weise an den Tag legt. Warum
da nicht das kleine Schrittchen weitergehen? Wenn es doch Louis XV.
sein muß, warum dann sich begnügen mit einem nachgeahmten, deutschen,
mißverstandenen, „barbarisierten" Louis XV.? Warum nicht gleich an
die Ouelle gehen und endlich wieder das authentische und ach! so lange
entbehrte Rokoko aus Paris geradenwegs beziehen? So dachte also die
tzotelgesellschaft, und niemand hat das Recht, ihren Erwägungen die
Folgerichtigkeit abzufprechen. Langsam ist es gekommen, nicht heftig
und mit einem Mal. Vorsichtig erst, dann kecker und immer kecker zeichnete
sich die historizistische Richtung in unserem kunstgewerblichen Schaffen ab.
Deutlich konnte man fühlen, wie ihre Werbekraft zunahm. tzeute läßt es


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