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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1915)
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Gürtler, Franz: Die deutsche Musik in Gegenwart und Zukunft
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Stapel, Wilhelm: Muß es Wucher geben?
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0026

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wenn unsre Musikpflege aller Pflichten eingedenk gewesen wäre, die ihr
gegenüber dem Ldelgut der Nation oblagen.

Ich bin mir bewußt, hier so manches Schlagwort, manchen mißverstand»
lich abgekürzten Gedanken ausgesprochen und manches Wichtige ausge-
lassen zu haben, wie die Fragen der Musikpadagogik, des Konservatorien-
wesens und etwa die des Lieder- und Balladengesanges. Am all dies
auszuführen bedürfte es eines Buches, nicht eines Aufsatzes. Das Buch
müßte ein gründlicher Kenner mit aller Sorgfalt und Liebe schreiben und
so müßte er zugleich die Offentlichkeit, die Opernleiter und Orchesterge-
bieter, die musikalischen Erzieher und den Musikalienhandel zu Taten
deutscher Kunstliebe und deutschen Kunsternstes anregen. Wir dürfen sagen,
daß unsre Wissenschaft, die Musikphilologie, mag mit ihr auch manche
Anzufriedenheit berechtigt sein, jenes „Edelgut" wenigstens einigermaßen
zum Gebrauch vorbereitet hat. Es ist gewiß, daß, wenngleich kein musi-
kalischer tzeroe zu den Lebenden zahlt, unsere Zeit an echten künstlerischen
Werten genug hervorbringt, um eine vernünftige und frohe Musikpflege
damit zu erfüllen. Aber was wir >auf dem Gebiet des tzeerwesens und
mancher andern Volkskräfte sind, Meister der Organisation — auf musi-
kalischem Gebiete dürfen wir uns noch nicht so nennen. Die Kriegszeit
ist eine Zeit der Einsicht und Einkehr, der offenen tzerzen, der verlangew-
den Gemüter, eine Zeit kräftiger neuer Forderungen und idealer Hoff-
nungen. Möge ihnen allen dauernde Erfüllung und ein künstlerischer
Aufschwung beschieden sein, wie wir sie dem Geist der „Mobilmachung",
der köstlich bewegten Leidenschaft unseres Volkes schuldig sind.

Franz Gürtler

Mnß es Wucher geben?

uch wer fest von der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit des Krieges
» in der Menschheitsgeschichte überzeugt ist, wird doch nicht wagen,
Krieg der Bomben aus der Luft, der Minen unter der Erde,
der Mörser, Maschinengewehre und Gasschläuche als einen „Kampf ums
Dasein" in Darwins Sinn aufzufassen, der die lebenstüchtigsten Einzel-
wesen für die Zukunft „ausliest". Wie beim Erdbeben wird unterschiedslos
der Wertvolle mit dem Wertlosen vernichtet. Wenn man auf die einzel-
nen sieht, erscheint der moderne Krieg geradezu als die Verkehrung des
natürlichen Kampfes: die Tüchtigen zieht er in seinen Todeskreis, die
Schwachen und Kranken verschmäht er. Dennoch ist er auch ein ganz eigent-
licher „Kampf ums Dasein« im entwicklungsgeschichtlichen Sinne: nämlich
der Völker. Dem tüchtigsten Volk schafft er Raum zum Wachstum. Aber
wird nicht ein Volk durch den Tod von tzunderttausenden seiner besten
Glieder für die Zukunft in seiner Lebenskraft trotz allen Siegen geschwächt?
So will es scheinen. Doch dem Weidenstrunk mögen alljährlich seine Ruten
abgehaun werden, er schlägt, solange Leben in ihm ist, in jedem Frühjahr
von neuem aus. Wir haben dasselbe an unserm Volk erlebt. Seine Krone
war ihm fast völlig abgeschlagen. Da wuchsen neue Aste und Zweige, und
nach einem Iahrhundert begann sich ihm eine herrlichere Krone zu wölben
als je zuvor. Selbst aus untüchtigen Stämmen, wenn ihnen Raum und
Licht verschafft wird, können sich kräftige Bäume entwickeln, selbst aus Ver-
brecherkolonien gesunde Völker. Solange jener geheimnisvolle Strom,
den wir Lebenskraft nennen, in einem Volk fließt, hängt jede Erneuerung
nur vor der Gesundheit und Stärke dieser Kraft ab.
 
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