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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 8.1897

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Rücklin, Rudolf: Die Seele des Materials, [1]
DOI Artikel:
Minkus, Fritz: Die menschliche Figur als dekoratives Element, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4884#0123
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106

DIE MENSCHLICHE FIGUR ALS DEKORATIVES ELEMENT.

von Geweben in der Regel um Hinzufügung weiterer
textiler Teile, nicht aber um künstlerische Bearbeitung
des Stoffes an sich handelt. So möchte ich die Textile
mit reich begabten, aber einseitigen, schroffen Naturen
vergleichen: So volle und mannigfaltige Wirkungen sie
erlauben, so starr sind ihre Stilprinzipien, so unerbittlich
rächt sich jede Versündigung gegen dieselben. — Zwei
moderne Stoffe mögen hier noch angeführt werden, die,
ursprünglich wohl nur als Surrogate angewendet für
Gewebe, sich nach und nach selbständige Bedeutung
errungen haben: Das Papier als Tapete und das Lino-
leum als Fußbodenbelag. Sie haben beide so unleugbare
Vorzüge vor dem im Ganzen ja weitaus wertvolleren
— im künstlerischen Sinne gesprochen — Wand- oder Fuß-
bodenteppich, dass sie wohl ein Recht darauf haben, mitge-

zählt zu werden. Ihr künstlerischer Charakter ist vor-
läufig vorwiegend ein negativer: Sie sollen sich hüten
vor der Nachahmung von Gewebe und Leder, — alles
andere scheint ihnen, sofern es künstlerisch annehmbar
ist, erlaubt. Denn als strukturlose, stets glatt aus-
gebreitete Flächenverkleidung sind sie beide lediglich
auf farbige Musterung hingewiesen, deren Eigenart sich
mehr nach der Benutzung, als nach den Eigenschaften
des Grundmaterials zu richten hat. Einen unange-
nehmen Eindruck aber muss es auf jeden Menschen mit
gesunden Sinnen machen, wenn das küble, glatte, feste
Linoleum das weiche und warme Plüschgewebe, oder
wenn die dünne, fest anklebende Papiertapete das dicke,
zähe, elastische Leder vortäuschen will.
(Schluas folgt.)

DIE MENSCHLICHE FIGUR ALS DEKORATIVES ELEMENT.

Figurales und lineares Ornament in der prähistorischen Kunst.

S hatte sich bei uns nach und nach die
Ansicht eingebürgert, dass der Uranfang
aller Ornamentationskunst allein das
lineare Ornament sei, und dass sich
figurale Darstellungen erst später lang-
sam aus jenem entwickelt hätten. Als
Beweis für diese Ansicht wurde stets die fast durch-
gehends lineare Dekoration prähistorischer Fundstücke
angeführt, zumal der Erzeugnisse der prähistorischen
Keramik, die infolge der Unverwüstlichkeit des gebrann-
ten Thons oft unsere einzige, stets unsere wichtigste
Quelle für vorgeschichtliche Kultur- und Kunstforschung
bildet.

So lange die Kunstgeschichte bei ihrer den Ent-
wicklungsgang der menschlichen Kunstthätigkeit bis zu
ihren ersten Anfängen zurückverfolgenden Arbeit ledig-
lich auf diese spärlichen Beste einer in die grauen
Fernen vorgeschichtliche]' Perioden zurückreichenden
Kultur angewiesen war, die ihr zusammenhanglos und
lückenhaft der Schoß der Erde bot, war diese Ansicht
gerechtfertigt, so weit ein wenig umfangreiches Beweis-
material zu entscheidenden Folgerungen berechtigt.

Durch den ungeahnten Aufschwung der ethnogra-
phischen Wissenschaften, der diese zu einer werkthätigen
Stütze der kunsthistorischen Forschung in Bezug auf
die vorgeschichtliche Kunstübung der Menschheit erhob,
fiel dieser Mangel an Beweismaterial hinweg: man hatte
durch Vergleichung bald gefunden, dass die heutigen
primitiven Völker, die wildlebenden Stämme Afrikas,
Amerikas, Australiens, zum Teil auch die Bauernbevölke-
rung weltentlegener Thäler Europas genau dieselbe Kunst-
thätigkeit entfalten, wie die prähistorischen Vorgänger der

geschichtlichen Kulturvölker, und die Lücke, die im Kapitel
„Prähistorik" in der Kunstgeschichte klaffte, konnte durch
die Kunstthätigkeit jener modernen Völker völlig gleich-
wertig ausgeführt werden, so dass sich die chronologische
Reihenfolge des dem Kunstforscher zur Verfügung stehen-
den Materials jetzt etwa folgendermaßen ergab: Kunst der
gegenwärtig wildlebenden Völker, Bauernkunst, und dann
die Kunst der Kulturvölker von ihrem ersten geschicht-
lich nachweisbaren Auftreten an.

Aber auch die Ethnographie ergab anfänglich fast
nur Beweise für die Richtigkeit der Ansicht betreffs der
unbedingten Priorität des linearen Ornaments. Sowohl
der Ornamentschatz der Kunst primitiver Völker als
der Bauernkunst weisen in so überwiegendem Maße die
Anwendung der Linie auf, dass die spärlichen figürlichen
Darstellungen neben ihr völlig in den Hintergrund
treten, ebenso wie die wenigen prähistorischen Fund-
stücke mit naturalistisch-figuralem Decor (so z. B. die
interessanten Kriegerdarstellungen auf mykenischen Ge-
fäßen [vergl. Schuchhardt-Schliemann] oder die staunen-
erregenden Tierzeichnungen an den der Penntierzeit an-
gehörenden Höhlenfanden von Südfrankreich), im Ver-
gleich zu der sonst fast durchgehends geometrischen
Ornamentation vorgeschichtlicher Funde verschwinden.

Da thaten einige erleuchtete Forscher, speciell aus
den Eeihen der Ethnographen, einen entscheidenden
Schritt: es war ihnen aufgefallen, wie wenig zahlreich
die Abwechslungen sind, die die lineare Ornamentirung
bestimmter Gerätschaften von primitiven Völkern auf-
weisen, wenig zahlreich im Verhältnis zu den uner-
schöpflichen Constellationen, die sich mit Hilfe der Linie
erfinden ließen. Außerdem fiel ihnen auf, dass oft ein
 
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