Die «Ionische Renaissance:
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Abb. 65 Dieses Fragment des archaischen
Simenfrieses wurde in einer Schicht aus ver-
branntem Marmorstaub gemeinsam mit
Dachziegelfragmenten des archaischen Tem-
pels gefunden. Auf zwei anpassenden Stei-
nen ist ein Silen dargestellt. Er blickt frontal
heraus, in seinem feisten Gesicht sitzt eine
breite Nase. Der Mund wird von einem
Schnauzbart, der dichte Vollbart auf jeder
Seite von volutenartig eingerollten Locken
gerahmt. In die obere Bruchfläche hinein
reicht auf beiden Seiten das etwa zur Hälfte
erhaltene, spitz hochstehende Pferdeohr.
Links erkennt man eine etwa halbkreisför-
mig vorstehende Erhebung, mit der die
Schulter des Silens gemeint sein muß. Dar-
überfanden sich aufdem Reliefgrund Farb-
spuren, die zeigen, daß der Grund mit einem
leuchtenden Blau gedeckt war. Uber dieser
Stelle befindet sich die schräg nach unten
weisende Tatze eines kleinen Löwen oder
Panthers; sie wurde gesondert angesetzt und
mit einer mörtelähnlichen Verbindung auf
dem Reliefgrund verklebt.
Auf der ephesischen Sima kann der Silen
zusammen mit der ephesischen Göttin darge-
stellt gewesen sein. Für Kleinasien ist er
auch als ein Begleiter der Kybele überliefert.
Silene symbolisieren ungezügeltes animali-
sches Verhalten und Fruchtbarkeit, sie sind
damit als Wesen angesprochen, die eine
Funktion innerhalb des Naturkreislaufes er-
fiüllen. Gefunden 1985.
Abb. 66 Ausschnitt aus einer Gigantoma-
chie, dem Kampf der Götter gegen die
Giganten. Erhalten ist ein Helm in Form
eines Löwenkopfes. Direkt unterhalb des
aufgerissenen Maules sitzt das Auge eines
Giganten, der vom Brand des archaischen
Tempels stammt. Am rechten Bildrand ist der
Ansatz der Innenfläche der Hand des Geg-
ners sichtbar, die in den Helmbusch hinein-
greift. Auffällig ist bei dem Löwen, daß es
sich um die Darstellung eines lebendig
gedachten Tieres handelt, das Feinde ab-
schrecken soll. Mit dem Anlegen eines sol-
chen Helmes wird aber auch bezweckt, sich
die Eigenschaften des Tieres anzueignen.
Der Gigant des ephesischen Simenfrieses
setzl sich damit als Löwe zur Wehr. Gefun-
den 1985.
Abb. 67 Architektur des Kroisosnaiskos.
Vom Aufbau des Kroisosnaiskos sind im
Bildvordergrund Marmorblöcke der aufge-
henden Wände, im Hintergrund die Nord-
ostecke mit einem anschließenden Block an
der Nordseite erhalten. Rechts ist die Ostseite
mit schön behauenen Kalkmergelsteinen
sichtbar. An der Nordseite ist ein Teil des
Fußbodens aus Marmorplatten zu erkennen,
die unter die Blöcke reichen. Links wird die
Innenseite der Sockelmauer sichtbar.
Abb. 68 Basisfragment, bestehend aus Spira
und Torus mit Ansatz des Säulenschaftes
vom spätklassischen Tempel, heute im Briti-
schen Museum. Die Basis stand in situ auf
dem sog. Fundament E im Plart Abb. 62.
könne mit Hilfe der Vernunft verstanden
werden, und diese dürfe auch vor Kunst
und Religion nicht haltmachen, bei De-
mokrit.
Die ionische Baukunst bezieht im
4. Jh. v. Chr. ihre geistigen Vorausset-
zungen aus zwei Hauptquellen, dem Ato-
mismus (der Annahme von kleinen Ein-
heiten) und der pythagoreischen Zahlen-
lehre. Der für die Baukunst wesentliche
Gedanke der Pythagoräer besagt, daß die
Dinge sich nur durch Zahlen begreiflich
machen können. Für die Übertragung
dieser Überlegungen in die Baukunst
können wir nicht mit literarischen Nach-
richten rechnen, sondern sind ganz auf
die Aussage der Bauwerke selbst ange-
wiesen.
Wie unten (S. 83) erläutert, waren die
griechischen und lydischen Kaufleute die
Träger einer neuen numerischen Denk-
weise. Aber auch dort, wo die Methoden
der Demokratie praktiziert wurden, wie
in Athen, war es der Wahlvorgang, der
dieses Denken förderte. Man kann sich
vorstellen, daß das numerische Problem,
d. h. die Arithmetik, viele Bürger in den
demokratischen Städten beschäftigte und
daß diese Überlegungen auch in die
Kunst und Architektur projiziert wurden,
wodurch sie eine symbolische Macht
bekamen.
Man muß sich der <Symposiaka> des
Plutarch erinnern; hier erklärt Florus,
daß Lykurg die Arithmetik verboten
hatte, weil sie die Dinge gleichwertig
verteilt hatte, und er deshalb die Geome-
trie eingeführt habe, weil sie die Dinge
nach ihrem Verdienst unterscheide, d. h.
gemäß ihrem Rang. Mit einem Wort:
die Neuinterpretation der Architektur in
Ionien ging auf die Ideen der archaischen
Kaufleute, der vorsokratischen Philoso-
phen, der Wissenschaftler und Theoreti-
ker des Urbanismus zurück. Es ist die
Rationalisierung des Planes, des Dekors
in einem mathematischen Rahmen. Es ist
dies der Versuch der Entmystifizierung
der Kunst, ein Phänomen, welches schon
in der Philosophie und der Wissenschaft
des 6. Jhs. v. Chr. beginnt. Die Macht
der numerischen Mehrheiten, welche
durch die Wahlen und die Abstimmungen
der demokratischen Institutionen ver-
wirklicht wurden, drückte sich in der
Arithmetik der Pläne und den Ornamen-
ten der Architektur aus.
Welche Botschaft erwartete also der
Bürger, wenn er von der Architektur
mehr als ein ästhetisches Vergnügen er-
59
Abb. 65 Dieses Fragment des archaischen
Simenfrieses wurde in einer Schicht aus ver-
branntem Marmorstaub gemeinsam mit
Dachziegelfragmenten des archaischen Tem-
pels gefunden. Auf zwei anpassenden Stei-
nen ist ein Silen dargestellt. Er blickt frontal
heraus, in seinem feisten Gesicht sitzt eine
breite Nase. Der Mund wird von einem
Schnauzbart, der dichte Vollbart auf jeder
Seite von volutenartig eingerollten Locken
gerahmt. In die obere Bruchfläche hinein
reicht auf beiden Seiten das etwa zur Hälfte
erhaltene, spitz hochstehende Pferdeohr.
Links erkennt man eine etwa halbkreisför-
mig vorstehende Erhebung, mit der die
Schulter des Silens gemeint sein muß. Dar-
überfanden sich aufdem Reliefgrund Farb-
spuren, die zeigen, daß der Grund mit einem
leuchtenden Blau gedeckt war. Uber dieser
Stelle befindet sich die schräg nach unten
weisende Tatze eines kleinen Löwen oder
Panthers; sie wurde gesondert angesetzt und
mit einer mörtelähnlichen Verbindung auf
dem Reliefgrund verklebt.
Auf der ephesischen Sima kann der Silen
zusammen mit der ephesischen Göttin darge-
stellt gewesen sein. Für Kleinasien ist er
auch als ein Begleiter der Kybele überliefert.
Silene symbolisieren ungezügeltes animali-
sches Verhalten und Fruchtbarkeit, sie sind
damit als Wesen angesprochen, die eine
Funktion innerhalb des Naturkreislaufes er-
fiüllen. Gefunden 1985.
Abb. 66 Ausschnitt aus einer Gigantoma-
chie, dem Kampf der Götter gegen die
Giganten. Erhalten ist ein Helm in Form
eines Löwenkopfes. Direkt unterhalb des
aufgerissenen Maules sitzt das Auge eines
Giganten, der vom Brand des archaischen
Tempels stammt. Am rechten Bildrand ist der
Ansatz der Innenfläche der Hand des Geg-
ners sichtbar, die in den Helmbusch hinein-
greift. Auffällig ist bei dem Löwen, daß es
sich um die Darstellung eines lebendig
gedachten Tieres handelt, das Feinde ab-
schrecken soll. Mit dem Anlegen eines sol-
chen Helmes wird aber auch bezweckt, sich
die Eigenschaften des Tieres anzueignen.
Der Gigant des ephesischen Simenfrieses
setzl sich damit als Löwe zur Wehr. Gefun-
den 1985.
Abb. 67 Architektur des Kroisosnaiskos.
Vom Aufbau des Kroisosnaiskos sind im
Bildvordergrund Marmorblöcke der aufge-
henden Wände, im Hintergrund die Nord-
ostecke mit einem anschließenden Block an
der Nordseite erhalten. Rechts ist die Ostseite
mit schön behauenen Kalkmergelsteinen
sichtbar. An der Nordseite ist ein Teil des
Fußbodens aus Marmorplatten zu erkennen,
die unter die Blöcke reichen. Links wird die
Innenseite der Sockelmauer sichtbar.
Abb. 68 Basisfragment, bestehend aus Spira
und Torus mit Ansatz des Säulenschaftes
vom spätklassischen Tempel, heute im Briti-
schen Museum. Die Basis stand in situ auf
dem sog. Fundament E im Plart Abb. 62.
könne mit Hilfe der Vernunft verstanden
werden, und diese dürfe auch vor Kunst
und Religion nicht haltmachen, bei De-
mokrit.
Die ionische Baukunst bezieht im
4. Jh. v. Chr. ihre geistigen Vorausset-
zungen aus zwei Hauptquellen, dem Ato-
mismus (der Annahme von kleinen Ein-
heiten) und der pythagoreischen Zahlen-
lehre. Der für die Baukunst wesentliche
Gedanke der Pythagoräer besagt, daß die
Dinge sich nur durch Zahlen begreiflich
machen können. Für die Übertragung
dieser Überlegungen in die Baukunst
können wir nicht mit literarischen Nach-
richten rechnen, sondern sind ganz auf
die Aussage der Bauwerke selbst ange-
wiesen.
Wie unten (S. 83) erläutert, waren die
griechischen und lydischen Kaufleute die
Träger einer neuen numerischen Denk-
weise. Aber auch dort, wo die Methoden
der Demokratie praktiziert wurden, wie
in Athen, war es der Wahlvorgang, der
dieses Denken förderte. Man kann sich
vorstellen, daß das numerische Problem,
d. h. die Arithmetik, viele Bürger in den
demokratischen Städten beschäftigte und
daß diese Überlegungen auch in die
Kunst und Architektur projiziert wurden,
wodurch sie eine symbolische Macht
bekamen.
Man muß sich der <Symposiaka> des
Plutarch erinnern; hier erklärt Florus,
daß Lykurg die Arithmetik verboten
hatte, weil sie die Dinge gleichwertig
verteilt hatte, und er deshalb die Geome-
trie eingeführt habe, weil sie die Dinge
nach ihrem Verdienst unterscheide, d. h.
gemäß ihrem Rang. Mit einem Wort:
die Neuinterpretation der Architektur in
Ionien ging auf die Ideen der archaischen
Kaufleute, der vorsokratischen Philoso-
phen, der Wissenschaftler und Theoreti-
ker des Urbanismus zurück. Es ist die
Rationalisierung des Planes, des Dekors
in einem mathematischen Rahmen. Es ist
dies der Versuch der Entmystifizierung
der Kunst, ein Phänomen, welches schon
in der Philosophie und der Wissenschaft
des 6. Jhs. v. Chr. beginnt. Die Macht
der numerischen Mehrheiten, welche
durch die Wahlen und die Abstimmungen
der demokratischen Institutionen ver-
wirklicht wurden, drückte sich in der
Arithmetik der Pläne und den Ornamen-
ten der Architektur aus.
Welche Botschaft erwartete also der
Bürger, wenn er von der Architektur
mehr als ein ästhetisches Vergnügen er-